Gesundheitswesen 2019; 81(10): 778-779
DOI: 10.1055/a-1007-7632
Panorama
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das Konzept der „verlorenen Lebensjahre“ ist auf die Luftverschmutzung anwendbar – aber nur mit Einschränkungen

Peter Morfeld
1   Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung der Universität zu Köln
,
Thomas Erren
1   Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung der Universität zu Köln
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Publication Date:
01 October 2019 (online)

Wir danken Herrn Schnitzler für das Interesse an unseren Veröffentlichungen in Das Gesundheitswesen [1] [2]. Die Frage des Lesers [3] gibt uns die Möglichkeit zur nochmaligen Klarstellung wichtiger Sachverhalte, die wir hier gerne anbieten.

Zunächst betonen wir, dass aus dem relativen Risiko sowohl die Gesamtzahl als auch der Durchschnittswert der durch eine Langzeitexposition verlorenen Lebensjahre (kurz: YLL) korrekt bestimmt werden kann. Siehe hierzu den Abschnitt „Verlorene Lebenszeit: Hier ist die Formel gültig – aber warum?“ in [1].

Herr Schnitzler kontrastiert die hohe Zahl der bei Tod im niedrigen Alter verlorenen Lebensjahre und die niedrige Zahl der im hohen Alter verlorenen Lebensjahre mit dem üblichen epidemiologischen Befund einer Langzeitwirkung, also einem größeren Effekt im höheren Alter nach längerer Einwirkung von z. B. Umweltschadstoffen, ggf. noch verstärkt durch einen Latenzzeiteffekt. Diese Aussagen scheinen nicht vereinbar zu sein. Insofern wirft dieses „Paradoxon“ die Frage auf, im welchem Zusammenhang YLL sinnvoll als ein Wirkungsmaß verwendet werden kann.

Die von Herrn Schnitzler korrekt dargelegte Langzeitüberlegung zu Umweltschadstoffen gilt allerdings für Raten (Erkrankungs- oder Sterberaten). Daraus folgt aber nicht, dass diese Überlegung auch für die von der Exposition verursachten verlorenen Lebensjahre gilt, also für YLL. Denn hierzu müssten die durch die Exposition bedingten Lebenszeitverluste pro Altersklasse aus epidemiologischen Daten bestimmbar sein, was sie aber nicht sind.

Wir haben auf diese Tatsache mehrfach und explizit hingewiesen:

  • Siehe den Abschnitt „Diskussion“ in [1]: „[…] die Gesamtzahl der verlorenen Lebensjahre verursacht durch Umweltbelastungen angemessen ermittelt werden kann, aber nicht ihre Aufteilung in unterschiedliche Todesursachen (Krankheiten) oder Altersklassen“.

  • Siehe den Abschnitt „Verlorene Lebenszeit: Hier ist die Formel gültig – aber warum?“ in [1]: „Die gesamte verlorene Lebenszeit sollte aber nicht nach Todesursachen (Erkrankungen) oder nach Altersgruppen aufgeteilt werden [...]. Diese Problematik lässt sich an dem Beispiel erläutern […].“ Hier führen wir aus, warum es nicht geht.

  • Siehe den Punkt 6 in [2]: „Plaß et al. [1] schreiben das Folgende – ohne Beweis: ‚kann die PAF auch auf die Ergebnisse einzelner Altersklassen angewendet werden, was entsprechend eine Zuordnung der Krankheitslast zu den Altersstrata ermöglicht.‘ Dies ist im Allgemeinen nicht zulässig.“ Wir zitieren die Methodiker Robins und Greenland zum Beleg und geben die Stellen exakt an, wo die Beweise nachzulesen sind.

  • Wir wiederholen diesen wichtigen Befund in der Zusammenfassung von [2]: „Die Gesamtzahl der verlorenen Lebensjahre verursacht durch Umweltbelastungen kann angemessen mithilfe der AF [Attributable Fraktion] ermittelt werden, aber nicht ihre Aufteilung in unterschiedliche Todesursachen (Krankheiten) oder Altersklassen“.

Die von Herrn Schnitzler angestellte Überlegung gilt Problemen der von uns und anderen in Frage gestellten Verfahren, wie sie z. B. von Plaß et al. [4] vertreten und in Schneider et al. [5] angewendet werden. Die Ursache dafür, dass man nicht sinnvoll attributable Lebenszeitverluste, also YLL, nach dem Alter aufgliedern kann, liegt in der Nicht-Identifizierbarkeit dieser Größen. Und dies geht darauf zurück, dass die Anzahl der attributablen vorzeitigen Todesfälle nicht bestimmbar ist, also notwendigerweise nicht ihre Aufteilung in Altersklassen. Diese Aussage der Nicht-Identifizierbarkeit von YLL gilt auch für Sterbeursachen, z. B. Lungenkrebs und alle zeitabhängigen Kovariablen, wie zeitabhängige Expositionen (siehe z. B. Punkt 6 in [2]). Dies betrifft viele Anwendungen z. B. in [5], wo sog. DALYs für spezifische Endpunkte, wie Diabetes oder Herzinsuffizienz ermittelt werden. Diese Berechnungen sollten als nicht zulässig erkannt werden.

 
  • Literatur

  • 1 Morfeld P, Erren TC. Warum ist die „Anzahl vorzeitiger Todesfälle durch Umweltexpositionen“ nicht angemessen quantifizierbar?. Gesundheitswesen 2019; 81: 144-149. doi:10.1055/a-0832-203
  • 2 Morfeld P, Erren TC. Attributable Fraktionen und vorzeitige Todesfälle: Wichtige Klärung von Missverständnissen. Das Gesundheitswesen 2019; 81: 448-452. doi:10.1055/a-0915-1359
  • 3 Schnitzler A. Ist das Konzept der „verlorenen Lebensjahre“ auf die Luftverschmutzung anwendbar?. Gesundheitswesen 2019; 81: 778
  • 4 Plaß D, Tobollik M, Devleesschauwer B. et al. Beitrag von Morfeld and Erren: Warum ist die „Anzahl vorzeitiger Todesfälle durch Umweltexpositionen“ nicht angemessen quantifizierbar? - Kritik an Population Attributable Fraction bei genauerem Hinsehen nicht gerechtfertigt. Gesundheitswesen 2019; 81: 444-447
  • 5 Schneider A, Cyrys J, Breitner S et al. Quantifizierung von umweltbedingte Krankheitslasten aufgrund der Stickstoffdioxid- Exposition in Deutschland. Abschlussbericht im Auftrag des Umweltbundesamtes, überarbeitete Version (Februar 2018). Herausgeber: Umweltbundesamt 2018 ISSN 1862-4340. URL https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/quantifizierung-von-umweltbedingten