retten! 2022; 11(02): 94-102
DOI: 10.1055/a-1656-1338
Fit als Notfallsanitäter

Traumatisch bedingter Kreislaufstillstand – das sollten Sie als Notfallsanitäter wissen

Rico Kuhnke
,
Volker Wanka
,
Jens Tiesmeier

retten! hält Sie fachlich fit: In jeder Ausgabe erarbeiten wir anhand eines Fallbeispiels einen interessanten Einsatz Algorithmen-konform auf. Anhand von exemplarischen Fragen zu erweiterten Notfallmaßnahmen, Kommunikation und Rahmenbedingungen können Sie sich auf die Ergänzungsprüfung vorbereiten oder Ihr Wissen auffrischen.

Kommentar

Jens Tiesmeier, Ärztlicher Leiter des Notarztstandorts Lübbecke und Mitherausgeber von retten!

In der Tat vereinigen sich bei einem durch einen Suizidversuch mit großem Blutverlust herbeigeführten traumatischen Kreislaufstillstand (TCA) 2 Fragen:

  • Welche pathophysiologischen Aspekte soll und muss ich beachten?

  • Welche ethischen Aspekte können mir eine Orientierung für mein Handeln vor Ort bieten?

Zur Pathophysiologie

Je nach Kinematik des Traumas sind die Hauptursachen eines TCA unkontrollierbare Blutungen (Hypovolämie), ein Spannungspneumothorax, die Asphyxie oder eine Perikardtamponade [1]. Zum Erhalt der Option des Überlebens liegt beim TCA, abweichend vom Vorgehen beim primär kardialen Kreislaufstillstand, der initiale Fokus nicht allein auf durchgehend qualitativ hochwertigen Basic- und Advanced-Life-Support-Maßnahmen (z. B. Thoraxkompression). Vielmehr müssen sich Teams im Training und im Einsatz darauf einstellen, dass parallel zur CPR (Herz-Lungen-Wiederbelebung) rasch die speziellen potenziell reversiblen Ursachen des TCA erkannt und behandelt werden müssen. Eine fortschreitende Hypovolämie durch Blutverlust und/oder ein unbehandelter Spannungspneumothorax reduzieren die Effektivität von Thoraxkompressionen, u. a. durch einen reduzierten venösen Rückstrom zum rechten Herzen und ein niedrigeres Herzzeitvolumen. Die aktuellen Guidelines des European Resuscitation Council (ERC 2021) betonen klar, dass Thoraxkompressionen eine niedrigere Priorität haben als die Behandlung reversibler Ursachen und daher die Behandlung dieser nicht verzögern sollen. Stellt das Team unter CPR eine reversible Ursache fest, werden, wie in dem vorgestellten Fall, Basismaßnahmen bewusst unterbrochen oder verzögert begonnen. Ein Gedanke, auf den sich Mitarbeitende im Rettungsdienst möglicherweise bewusst einstellen müssen.

Aber auch die Behandlung der reversiblen Ursachen bietet weitere Fallstricke:

Hypoxie: Eine kontrollierte Beatmung sollte mit niedrigen Tidalvolumina und unter Kapnografie und -metrie durchgeführt werden. Neben den Folgen eines erhöhten intrathorakalen Drucks durch die Beatmung droht sonst u. a. die Umwandlung eines Pneumo- in einen Spannungspneumothorax. Eine Hyperkapnie führt zur Vasodilatation und kann beim Schädel-Hirn-Trauma den intrakraniellen Druck weiter steigern.

Hypovolämie: Das Konzept einer permissiven Hypotonie sieht vor, dass die intravenöse Gabe von kristalloiden Infusionen zurückhaltend erfolgen soll, um eine Verdünnungskoagulopathie zu vermeiden. Andernfalls droht die Gefahr einer verstärkten Blutungsneigung. In der Praxis sind die Aufrechterhaltung eines palpablen Radialispulses oder ein RR von ca. 90 mmHg bewährte Richtwerte. Anstelle von Infusionen betont das ERC 2021 neben der Gabe von Tranexamsäure erneut den frühen Einsatz von Blutprodukten. Wir können gespannt sein, inwieweit ihr Einsatz in der Präklinik künftig zum Thema wird. Wird hingegen eine intravenöse Narkose notwendig, droht als unerwünschte Wirkung eine Verstärkung der Hypotonie und evtl. der Einsatz von Vasopressoren.

Zu den ethischen Aspekten

Das Therapieziel eines Reanimationsversuchs ist auf den ersten Blick einfach zu beantworten: Ein Spontankreislauf soll wiederhergestellt und bleibende Schädigungen weiterer Organsysteme, der Psyche oder des Sich-selbstständig-entscheiden-Könnens, also neurologische Schädigungen, im Idealfall vermieden werden. Für Behandlungsentscheidungen vor Ort haben sich in der Praxis die 4 gleichberechtigten Prinzipien der Bioethik bewährt, die durch die Begriffe der Autonomie, Fürsorge, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit sprachlich zum Ausdruck kommen. Aus ihnen lässt sich eine Entscheidung über den Beginn, die Fortsetzung oder die Beendigung einer CPR, ohne die Betrachtung persönlich-individueller Moralvorstellungen oder Überzeugungen, argumentativ ableiten [2] [3].

Prinzip der Autonomie. Das Prinzip der Autonomie respektiert den Willen des Patienten über die Akzeptanz oder die Ablehnung einer Behandlung. Die besondere Schwierigkeit im vorliegenden Fall ist ein TCA durch einen Suizidversuch bei bekannten Depressionen, also die Abwägung zwischen dem freien Willen und der möglichen unfreiwilligen Folge einer potenziell behandelbaren Erkrankung. Da nur eine sofortige CPR die Option auf ein Überleben sichert, muss im Sinne des „in dubio pro vita“ mit der CPR begonnen werden, bis alle Informationen über den Patienten eingeholt werden konnten. Bei unverschuldeten Unfällen mit TCA muss man davon ausgehen, dass der Lebenswunsch des Menschen den CPR-Versuch rechtfertigt.

Prinzip der Fürsorge. Das Prinzip der Fürsorge bewertet, ob das mögliche Behandlungsergebnis zum Wohle des Patienten ist, also dem Patienten nützt. Es ist die Begründung für die Durchführung einer CPR bei TCA. Ein Gesamtüberleben von bis zu 32 % mit Hinweisen auf bessere neurologische Ergebnisse im Vergleich zu einer CPR bei anderen Ursachen sind hier Argumentationsgrundlagen.

Prinzip der Schadensvermeidung. Hierbei geht es um die Nutzen-Risiko-Bewertung einer Maßnahme. Behandlungen zum Nachteil des Patienten sollen vermieden werden. Hiermit verbunden ist u. a. die Frage, ab wann eine begonnene CPR bei TCA als erfolglos beendet werden darf, da es keine zuverlässigen Voraussagen für den Outcome gibt. Die ERC Guidelines 2021 empfehlen zur Entscheidungsfindung u. a. zu prüfen, ob massive Verletzungen ohne Überlebenschance vorliegen (z. B. Verlust von Hirngewebe), ob in den letzten 15 Minuten Lebenszeichen vorhanden waren, ob die speziellen reversiblen Ursachen des TCA behoben wurden und hiernach kein Spontankreislauf einsetzte oder ob im Rahmen einer Sonografie bei pulsloser elektrischer Aktivität eine kardiale Aktivität festgestellt werden konnte. Die Entscheidung zum Abbruch einer CPR ist jeweils einmalig. Da sie für den Patienten den endgültigen biologischen Tod bedeutet, muss sie mit größter Sorgfalt individuell getroffen werden.

Prinzip der Gerechtigkeit. Neben dem gerechten Einsatz von Ressourcen mit dem Ziel bestmöglicher Behandlung eines jeden Individuums, darf die Durchführung einer Maßnahme u. a. nicht von sozialem Status, Religion, Herkunft, Geschlecht oder Alter der Patienten abhängig sein.

Der Fall zeigt, wie vielschichtig die Vorbereitung auf und die Nachbereitung von Einsätzen mit einem TCA sein kann. Auf alle Fälle macht er Lust, sich noch einmal mehr in die feinen Unterschiede zum „klassischen“ Advanced Life Support zu vertiefen.

Literatur

Lott C, Truhlár A, Alfonzo A et al. Kreislaufstillstand unter besonderen Umständen – Leitlinien des European Resuscitation Council 2021. Notfall Rettungsmed 2021; 24: 447–523
Beauchamp TL, Childress JF. Principles of biomedical ethics, 6. Aufl. New York: Oxford University Press; 2013
Siebel A, Tiesmeier J. Extrakorporale kardiopulmonale Reanimation aus ethischer und rechtlicher Sicht: Z Herz Thorax Gefäßchir 2019; 33: 410–414



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
12. April 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany