Geburtshilfe Frauenheilkd 2022; 82(03): 265-268
DOI: 10.1055/a-1748-8464
GebFra Magazin
Geschichte der Gynäkologie

Schwangerschaftsdosen, Kalendertische, Geburts-Tafeln und Volvellen – Anmerkungen zur Geschichte des Gravidariums

Matthias David
1   Klinik für Gynäkologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Berlin, Deutschland
,
Andreas D. Ebert
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„Mit einer solchen Dose aber versehen, kann man auf die Fragen der Schwangeren, wie lange sie noch zu gehen hätte […], zu jeder Stunde befriedigende Antwort geben: man darf nur die Dose aus der Tasche holen, sie mit den gewöhnlichen Formalitäten in den Händen herumdrehen und so wird man nach ein paar Fragen, die man gethan zur Zeitgewinnung, die Zahlen zu finden, im Stande seyn, die erwünschte Antwort zu geben…“ [1]. Die Rede ist hier von einer speziellen Schnupftabakdose, einer Erfindung des Chirurgen und Geburtshelfers Carl A. F. Kluge (1782–1844), auf deren Deckel neben einem Bild der sitzenden Göttin Lucina ein Schwangerschaftskalender „in Zirkelform“ aufgebracht war [1]. Außerdem befanden sich auf der Innenseite des Dosendeckels und auf der Außenseite des Dosenbodens noch weitere Kalender mit wichtigen Informationen zum Verlauf der Schwangerschaft [2]. Diese „Lucinendose“ erinnert in Design und Funktion an ein sog. Gravidarium, das heute noch jedem geburtshilfliche Tätigen eine unverzichtbare praktische Hilfe im Alltag ist. Gravidarien gehören, wie die in der Veterinärmedizin verwendeten, ebenfalls in Scheibenform produzierten Trächtigkeits- oder Brütekalender, zur Gruppe der Datums- oder Kalenderrechnern, worunter man mechanische Datenschieber versteht, „die es dem Benutzer ermöglichen, zu einem gegebenen Datum den Wochentag zu ermitteln, zu einem Datum eine bestimmte Anzahl von Tagen zu addieren oder zu subtrahieren bzw. zwischen zwei Terminen liegende Anzahl von Tagen (z. B. für die Zins- oder Lohnabrechnung) zu ermitteln…“ [3].

Rechengeräte in Form von Rundscheiben haben eine lange interdisziplinäre Tradition, denn sie gehen wohl auf die sog. Volvellen zurück. Volvellen (von lat. vollere = rollen; volvere = drehen) aus beweglichen Pergament-, Papier- oder Pappscheiben dienten seit dem Mittelalter der Visualisierung astronomischer Vorgänge ([Abb. 1]). So berichtet Gappmayr 2022 über ein 2-bändiges Astronomiebuch von 1536, das mithilfe zahlreicher Volvellen die Möglichkeit schaffen sollte, für jede Stunde und jeden Tag der Jahre 1536 bis 1571 den Stand der Planeten zu berechnen [4]. „Volvellen waren keine neue Erfindung der Renaissancezeit. Sie wurden bereits in der Antike von den Griechen aber auch von arabischen Gelehrten für die Darstellung astronomischer Sachverhalte verwendet und können – wenn man so will – als frühe analoge Rechner bezeichnet werden…“ [4]. Solche Volvellen finden sich vor allem in vielen astronomischen Handschriften, Atlanten und wissenschaftlichen Büchern, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert gedruckt wurden. Sie eröffneten die Möglichkeit, „die sonst den Gelehrten vorbehaltenen Messinstrumente in Form von Papierscheiben einem breiteren Publikum zugänglich zu machen…“ [4]. Drennan betonte 2012, dass die Volvellen in die Bücher eingearbeitet wurden, um dem weniger kundigen Leser zu helfen, den begleitenden Text zu verstehen oder um eine große Datenmenge auf einem einzigen Blatt zu verdichten [5].

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Abb. 1 Volvellen aus verschiedenen mittelalterlichen astronomischen Büchern (Foto: M. David).

Das Prinzip der Volvelle (= kreisförmiges Datendiagramm aus Papier mit drehbaren Scheiben und Zeigern) wurde im Verlauf des Mittelalters in verschiedene andere Materialien, die jeweils mit einer hohen handwerklichen und künstlerischen Fähigkeit verbunden waren, „übersetzt“. So berichtet Wanner über ein 1556 von einem Heilbronner Silberschmied angefertigtes „Astronomisches Kompendium“. Dieses kunstvolle Ergebnis beeindruckender mittelalterlicher Handwerkskunst hat etwa die Größe einer Tischuhr und besteht aus mehreren aufklappbaren Fächern, die wiederum Volvellen aus Metall enthalten, mit denen zum Beispiel die Mondphasen berechnet werden konnten [6].

Eine weitere Interpretation des Themas „Astronomische Volvelle“ stellt der Kalendertisch dar. Über einen solchen berichten Folk und Altman Poetsch in ihrem Artikel über den Steinätzer und Kalligraphen Andreas Pleninger (1555–1607), der zwischen 1519 und 1607 mehrere Steintische in Form eines „Calendarium perpetuum“ anfertigte [7]. Sie enthalten vielfältige kalendarische, astronomische und astrologische Darstellungen sowie illustrierende Grafiken. Von diesem Tisch ist es dann nur ein kleiner Schritt zu einem der möglicherweise ersten, allerdings immobilen Schwangerschaftskalender, bei dem die Verwandtschaft zu den Volvellen der Astronomen sofort ins Auge fällt. Boschung beschreibt ausführlich dieses fast türgroße „Calendarium obstetricae“, eine 114 cm hohe und 38,5 cm breite bemalte Holzplatte [8]. Die eigentliche „Geburts-Tafel“ nimmt den unteren Teil dieser Kalenderplatte ein und besteht aus 4 Messingzeigern und 4 übereinander angeordneten, konzentrischen Scheiben, wobei die 3 inneren Kreise aus Eisenblech bestehen und sich um einen zentralen Punkt drehen lassen. Der Auftraggeber für diese „Geburts-Tafel“, der damalige Züricher Stadtarzt Johannes von Muralt (1645–1733), lieferte auch eine Gebrauchsanweisung für diese Tafeln. Boschung schreibt dazu: „Durch den konstanten Winkel zweier Zeiger gibt Muralt’s Kalender, ausgehend von der letzten Periode, die Dauer der Schwangerschaft mit 278 Tagen an. Damit wäre er auch heute noch benützbar…“ [8].

Sowohl die von Naegele 1812 angegebene „Formel“, er ging von einer Schwangerschaftsdauer von 280 Tage aus [9] [10], als auch die o. g. „Geburts-Tafel“ waren für die tägliche geburtshilfliche Routine unpraktisch. Daher wurden schon bald handlichere Rechengeräte in Form von Rundscheiben, den Volvellen nachempfundene Gravidarien entwickelt, wobei hier neben der schon erwähnten Schnupftabakdose von C.A.F. Kluge auch das „Periodoskop“ von William Tyler Smith (1815–1873) genannt werden muss, über das der bekannte englische Geburtshelfer, Schriftsteller und Journalist 1850 erstmals berichtete. Auch dieses „Instrument“ bestand aus 2 beweglichen Scheiben, auf denen Tage, Wochen und Monate eines Kalenderjahres markiert waren. Außerdem waren am Rand der größten Scheibe weitere, für den Verlauf der Schwangerschaft oder mögliche ärztliche Maßnahmen wichtige Informationen zu finden [11] [12]. Zeitlich nahezu parallel zum Smith’schen Periodoskop beschrieb der praktische Arzt Karl August Koch in seinem Buch „Der Hausarzt am Wochenbett und in der Kinderstube. Eine Liebesgabe für treue, sorgsame Mütter …“ von 1853 einen dem Ratgeber beigegebenen Schwangerschaftskalender. Eine kreisförmige Grafik sollte der Leserin dabei helfen, den Tag der Entbindung selbst zu berechnen. Koch erklärt: „Der äußerste Kreis giebt den Tag des erfolgreichen Beischlafs an; der mittlere Kreis zeigt die Zeit an, in der die ersten Kindsbewegungen gefühlt werden, welche in die Mitte der Schwangerschaft, also in die zwanzigste Woche fallen; der innerste Kreis bezeichnet den Tag, wo die ersten Geburtsschmerzen entstehen, …“ [13].

Spätestens mit dem „Lehrbuch der Hebammenkunst“ von B. S. Schultze (1827–1919) [14] fand der praktische kreisförmige Schwangerschaftskalender auch Eingang in die Hebammenlehrbücher, was sicher auch zur Weiterverbreitung der geburtshilflichen Rechenscheiben in Laienkreisen im Verlauf des frühen 20. Jahrhunderts beitrug. Ein wegen der zahlreich aufgebrachten Angaben besonders schönes Exemplar, das stark an den „Volvellen-Ursprung“, vor allem aber an die Züricher „Geburts-Tafel“ erinnert, ist die Beilage zu dem Buch „Wissen und Können. Hochschule des praktischen Lebens“ von 1933 [15] ([Abb. 2]). Dieses Gravidarium besteht aus 2 konzentrischen Pappscheiben – die äußere zeigt Monate, Tage und Sternzeichen, die kleinere den Beginn der Menstruationsblutung, die empfängnisfreie und die für eine Befruchtung günstige Zeit. Darüber sind 3 fest zueinanderstehende Zeiger aufgebracht, mit denen nach dem Einstellen des Datums der letzten Regel der Zeitpunkte „erste[r] Kindsbewegungen“ und der „voraussichtliche Tag der Geburt“ bzw. die „mögliche Geburtszeit“ ablesbar sind.

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Abb. 2 Gravidarium von 1933 vor einem verkleinerten Ausschnitt aus der Züricher Geburts-Tafel [8] [11] (Sammlung M. David, Foto: M. David).

In den 1940er-Jahren hatte Carl Josef Gauß (1875–1957) eine von ihm auf der Grundlage eines „Schwangerschaftszeitmessers […] von Zangemeister und Biermer“ von ihm als Terminuhr bezeichnetes Gravidarium entwickelt, das aus 2 aufeinander drehbaren Metallscheiben von 10 bzw. 13 Zentimeter Durchmesser bestand. Es könne, so Gauß, „in der Rocktasche untergebracht oder – für den Gebrauch am Schreibtisch – auf einen Holzklotz montiert werden …“ [16]. Ein besonders hochwertig ausgeführtes, und – wie das Gauß’sche, ebenfalls aus 2 Metallscheiben bestehendes „Gravidarium nach Dr. Escher und Kätsch“ haben wir vor Kurzem ausführlich für die „Zeitschrift für Neonatologie und Geburtshilfe“ [17] beschrieben.

Im Verlauf der vergangenen 40 Jahre wurden zahlreiche Modifikationen von Gravidarien bzw. scheibenförmigen Geburtsterminrechnern entwickelt, wobei diese heute für die Benutzung in Klinik und Praxis aus robustem Plastik und für Laien meist aus farbig bedruckter Pappe bestehen. Noch haben weder die Kritik an der Genauigkeit der Gravidarien [18] [19] [20] noch elektronische Anwendungen, deren Entwicklung bereits in den 1980er-Jahren begann [21] [22], diese verdrängen können. Das Grundprinzip der gegeneinander drehbaren Scheiben hat sich indes in den letzten 200 Jahren nicht geändert. Es ist letztlich ohne Belang und kann wohl auch nicht mehr geklärt werden, auf wen die Erfindung des Gravidariums genau zurückgeht [2] [23] [24]. Möglicherweise war es wie bei einer Reihe anderer Erfindungen und Entdeckungen in der Medizingeschichte so, dass mehrere Geburtshelfer auf einen ähnlichen Gedanken kamen, weil die Zeit dafür reif war. Denkbar ist auch, dass zumindest ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts parallel zur Neugründung und Verbreitung zahlreicher Fachzeitschriften eine gegenseitige „Ideeninspiration“ stattfand. Schließlich ist wohl auch nicht zu klären, ob die Human- die Veterinärmedizin dazu angeregt hat, Gravidarien bzw. diesen nahestehende Trächtigkeitsscheiben zu entwickeln – oder umgekehrt ([Abb. 3]).

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Abb. 3 Trächtigkeits- und Brütekalender der Vereinten Tierversicherung Wiesbaden, wahrscheinlich aus den 1950er-Jahren (Quelle: Sammlung M. David, Foto: M. David).

Neben den kreisförmigen Gravidarien lässt sich für die 1950er- bis 1980er-Jahre eine 2. Entwicklungslinie mit den geburtshilflichen Rechenschiebern oder -stäben nachweisen, die in beiden Teilen Deutschlands (BRD: Fa. Faber-Castell; DDR: VEB Mantissa) unabhängig voneinander (?!) entwickelt und genutzt wurden [25]. Sie fanden allerdings keine weite Verbreitung und sind heute praktisch vergessen. Es existieren nur noch einige letzte Exemplare bei Sammlern.



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Article published online:
03 March 2022

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