Nervenheilkunde 2022; 41(06): 374-380
DOI: 10.1055/a-1755-7982
Editorial

Rituale: Kultur und Psychologie, Pro und Kontra

Manfred Spitzer

Das Ritual ist eine nach bestimmten Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche, nahezu immer in Gemeinschaft erfolgende Handlung mit meist zusätzlichem Symbolgehalt: Die Handlung hat eine Bedeutung, d. h. sie steht für etwas, das sie selbst nicht ist. Das Wort leitet sich vom lateinischen „Ritus“ ab, das in erster Linie religiöse Handlungen („Zeremonien“, d. h. „förmliche Akte“) bezeichnet, im übertragenen allgemeineren Sinne aber auch „Brauch“, „Sitte“ oder „Gewohnheit“ meinen kann. Immer geht es um Handeln, dem zudem ein bestimmter (meist nicht unmittelbar offensichtlicher) Sinn zugeordnet ist. Weltliche Rituale sind der Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, vor allem der Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften. Rituale bauen auf psychologischen Mechanismen auf, werden jedoch kulturell tradiert [12]. Manche Rituale gelten als Kulturgut.

Für viele heutige Menschen scheinen Rituale eher einer vergangenen Zeit anzugehören: alte sinnlose Zöpfe, die abgeschnitten gehören, weil sie nicht mehr in die aufgeklärte moderne Welt von Smartphones, Computern und Internet passen. Alles geht immer, 24/7 an 365 Tagen – Rituale scheinen in unserer schnelllebigen, auf ständige Neuigkeiten ausgerichteten Zeit keinen Platz mehr zu haben [7]. Das zuweilen beklagte Verschwinden von Ritualen (von Anstand und Höflichkeit über Tischgebete und Gottesdienstbesuche bis zum Respekt von Autoritäten und Institutionen) wird von anderen als Fortschritt begrüßt, die in Ritualen eine Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit sehen wie in anderen Konventionen auch.

„Rituale, die überall im menschlichen Leben vorkommen und in vielen religiösen und kulturellen Traditionen eine zentrale Rolle spielen, werfen Fragen auf. Eine wichtige Frage betrifft den Wert solcher Wiederholungen nach festen Regeln – z. B. beim Gebet, im zwischenmenschlichen Umgang, manchmal sogar beim Essen und Trinken. Warum sollte man beispielsweise beim Gebet nicht den direkten Ausdruck religiöser Gedanken und Gefühle fördern – sozusagen aus dem Herzen heraus und nicht nach einer bestimmten festen Vorschrift? Manchmal wird suggeriert, und es ist verlockend, anzunehmen, dass die Reglementierung einer solchen Äußerung sie einschränkt und letztlich erniedrigt. Es ist schwierig, in einer solchen scheinbar unnötigen Regulierung des Ausdrucks menschlicher Angelegenheiten einen Wert zu sehen.“, kann man in der Concise Routledge Encyclopedia of Philosophy (S. 774) dazu nachlesen.[ 1 ] Und weiter heißt es dort: „Aus philosophischer Sicht werfen Rituale Fragen auf, denn aus keinem der gängigen Ansätze in der Ethik lassen sich der moralische Wert von Ritualen zwanglos ableiten oder gar deren wesentliche Bedeutung für moralisches Handeln einsichtig machen. Aber in genau diesen Zusammenhängen werden Rituale in Gemeinschaften und von Praktikern gesehen.“ Wie es scheint, passen Rituale weder in die heutige Lebenspraxis noch lässt sich ihre Ausübung theoretisch „rational rekonstruieren“ (wie man dies heute nennt). Warum also gibt es (noch) Rituale?



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Article published online:
07 June 2022

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