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DOI: 10.1055/a-2159-7736
Poliomyelitis (Poliomyelitis acuta, Kinderlähmung, Heine-Medin-Krankheit)
Erreger und Epidemiologie
Poliomyelitis (kurz: Polio) ist eine von Mensch zu Mensch, meist als Schmierinfektion mit Stuhlgang oder Urin, oder als Tröpfcheninfektion übertragene Infektionserkrankung der Motoneurone in den Vorderhörnen des Rückenmarks, der Hirnnervenkerne der Medulla oblongata, der Pons und des Mittelhirns (Poliomyeloencephalitis). Sie wird durch für die Magen-Darm-Passage säurestabilen und gegen eine Vielzahl proteolytischer Enzyme resistente Polioviren verursacht [11].
Dabei handelt sich um unbehüllte RNA-Viren aus der Familie Picornaviridae, die zur Gruppe der Enteroviren gehören [11]. Es sind drei Typen von Polioviren ohne Kreuzimmunität bekannt, Typ I (Brunhilde), klassischer Epidemietyp, Typ II (Lansing, seit 1999 nicht nachgewiesen) und Typ III (Leon, seit 2013 nicht nachgewiesen). Diese können sich nur im Menschen oder in einigen Menschenaffenspezies vermehren. Sie zeigen eine sehr hohe Infektiosität bei gleichzeitig niedriger Pathogenität. 72–95% der Infektionen verlaufen klinisch inapparent. Die Inkubationszeit beträgt 5–35 Tage. Nach durchgemachter Infektion kommt es zur vollen Immunität.
Durch eine entzündliche Infiltration mit später gliöser Vernarbung werden einige Motoneurone zerstört, andere können sich trotz toxischer Affektionen im weiteren Verlauf regenerieren.
Poliomyelitis ist in Deutschland nach § 6 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes (ebenso in Österreich und der Schweiz) bei Verdacht, Erkrankung und Tod meldepflichtig [11].
Die Erkrankung ist grundsätzlich in jedem Alter möglich. Am häufigsten manifestiert sie sich jedoch bei Kindern im Alter von 3–8 Jahren.
Trotz des intensiven Einsatzes der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Rahmen des 1988 initiierten globalen Eradikationsprogrammes konnte die Polio bisher nicht weltweit vollständig ausgerottet werden [11]. Als Endemiegebiete gelten gegenwärtig Afghanistan und Pakistan.
In Europa wurden letztmalig in der Ukraine 2015 zwei und in Bulgarien 2001 drei Polio-Fälle bei Ungeimpften gemeldet. 2022 wurden in Israel 6 Infektionen, und in London und New York Polioviren im Abwasser nachgewiesen. In einigen afrikanischen Länder werden aufgrund nicht ausreichender oder fehlender Immunisierung und schlechter hygienischer Verhältnisse auch Erkrankungen durch vom oralen Lebendimpfstoff stammende Viren verursacht [11].
In Deutschland traten letztmalig im Jahr 1992 zwei durch importierte Wildviren verursachte Polio-Infektionen auf. Die letzte schwere Poliomyelitis-Epidemie wurde in Deutschland im Jahr 1961 mit etwa 20.000 erkrankten und gelähmten Menschen registriert. Diese Patienten benötigen bis heute regelmäßig kompetente ärztliche, vor allem orthopädische und rehabilitative Betreuung.
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
11. Dezember 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 World Health Organization. Health Topics Poliomyelitis (polio). Zugriff am 28. September 2023 unter: https://www.who.int/health-topics/poliomyelitis#tab=tab_1
- 2 Robert Koch Institut. Poliomyelitis, RKI-Ratgeber. Zugriff am 28. September 2023 unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Poliomyelitis.html
- 3 Das Post-Polio-Syndrom. Halstead LS, Grimby G. Jena: Gustav Fischer Verlag; 1996
- 4 Fujak A, Frommelt P, Weikert E. et al. Das Postpoliosyndrom (PPS). Z Orthop Ihre Grenzgeb 2006; 144: R19-38
- 5 Balzien B, Hofner B, Harlander-Weikert E. et al. Orthopädische Beschwerden und Funktionseinschränkungen beim Post-Polio-Syndrom. Z Orthop Unfall 2014; 152 (03) 241-246