Zusammenfassung
Hintergrund Seit der Möglichkeit der weiterführenden und seit 2009 grundständigen Ausbildung
an Fachhochschulen versucht die Physiotherapie in Deutschland, sich in den internationalen
Diskurs um eine Disziplinbildung einzubringen und ihr Feld in Theorie und Praxis neu
zu definieren. Die Notwendigkeit, sich mit Theorie- und Modellentwicklung (wesentliche
Kernelemente einer Disziplin) zu beschäftigen, wird bereits gefordert. Gegenwärtig
dominiert die Bezugswissenschaft die wissenschaftliche Basis der Physiotherapie, da
bisher nur eine geringe Anzahl von (physio)therapeutischen Theorien und Modellen existiert.
Ziel Erfassen der subjektiven Sichtweisen und Deutungsmuster von Expert*innen hinsichtlich
der Bedeutung von Theorie- und Modellentwicklung für die Disziplinbildung der Physiotherapie
in Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt und Einordnung der Ergebnisse in die Strömungen
der Disziplinentwicklung und -bildung.
Methode Die Studie basiert auf einem qualitativen Forschungsansatz, orientiert an der Grounded-Theory-Methodologie.
Die Datenerhebung erfolgte durch 4 leitfadengestützte, theoriegenerierende Expert*inneninterviews
mit Professor*innen der Physiotherapie. Nach wortwörtlicher Transkription wurde das
entstandene Datenmaterial in Anlehnung an den methodischen Ansatz der Grounded Theory
ausgewertet.
Ergebnisse Als Kernkategorie wurde der „Schwebezustand“ identifiziert, der sich aus den subjektiven
Sichtweisen und Deutungsmustern der Interviewpartner*innen über die Bedeutung der
Theorie- und Modellentwicklung ergibt. Der „Schwebezustand“ ist ein Prozess während
der Bildung einer wissenschaftlichen Disziplin, der unentschieden und unvollständig
ist. Er ergibt sich durch die Ausformulierung der Kategorien Unsicherheit, Abgrenzung,
Vermeidung und Transformation und beschreibt einen aktuell unentschiedenen, noch nicht
abgeschlossenen Prozess der Bedeutung von Theorie- und Modellentwicklung für die eigene
Person. Die Ergebnisse zeigen graduelle Unterschiede bei der Interpretation des „Schwebezustands“
durch die Interviewpartner*innen. In Verlaufskurven in Anlehnung an Schütze [34] zeigt sich, dass die Selbstpositionierung dieser hinsichtlich der eigenen Auseinandersetzung
mit der Theorie- und Modellentwicklung auf den
laufenden Prozess der Transformation der Physiotherapie von einer Profession zur Disziplin
verweist. Die damit verbundenen Ambivalenzen der Deutungsmuster der Interviewpartner*innen
werden deutlich erkennbar.
Schlussfolgerung Eine interne Diskussion über den „Schwebezustand“ ist notwendig, um die Relevanz
der Theorie- und Modellbildung für die Physiotherapie als wissenschaftliche Disziplin
zu unterstützen.
Schlüsselwörter
Physiotherapie - Grounded Theory - Deutschland - qualitative Forschung - leitfadengestützte
Interviews - Gesundheitsfachberufe
Keywords
physiotherapy - grounded theory - Germany - qualitative research - interviews as topic
- allied health occupations