Z Gastroenterol 2023; 61(12): 1591-1592
DOI: 10.1055/a-2207-7644
Editorial

Was bewirkt eine leitliniengerechte Versorgung von Tumorerkrankungen?

Thomas Seufferlein

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

heute möchte ich ihnen – ausnahmsweise – in einem Editorial eine Publikation ans Herz legen – die Daten der WiZen-Studie, einer vergleichenden Kohortenstudie zur Krebserstbehandlung in zertifizierten und nichtzertifizierten Zentren (DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0169).

Seit mittlerweile 20 Jahren gibt es in Deutschland nach den Kriterien der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierte Organkrebszentren, die an vielen Standorten in den letzten Jahren zu Onkologischen Zentren gewachsen sind. Diese Zentren verpflichten sich, leitliniengerechte Therapiestandards an ihren Standorten umzusetzen und lassen sich regelmäßig von Fachexperten aus unterschiedlichen Fachgebieten auditieren. Trotz Freiwilligkeit bei der Teilnahme, erheblichem Aufwand bei der Umsetzung und weitgehend fehlender zusätzlicher Vergütung sind die Zentren ein Erfolgsmodell in Deutschland geworden, was für die hohe Motivation von Behandlerinnen und Behandlern spricht, ihren Patientinnen und Patienten eine optimale Behandlungsqualität zu bieten. Die Frage, die bislang immer im Raum stand, war: Lohnt sich der Aufwand der Zertifizierung für die Patientinnen und Patienten?

Dieser Frage hat sich Jochen Schmitt und seine Koautoren in der WiZen-Studie gestellt. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass auch nach umfangreicher Adjustierung für patientenseitige und klinikseitige Confounder sich für alle Krebsentitäten Vorteile im Gesamtüberleben bei Erstbehandlung in einer zertifizierten im Vergleich zu einer nichtzertifizierten Klinik ergeben (HR zwischen 0,77 und 0,97) – „nur“ durch leitliniengerechte, interdisziplinär vernetzte Diagnostik und Therapie, und dies auch für so schwierige Entitäten wie das Pankreaskarzinom. Dieses Ergebnis ist Meilenstein für die multidisziplinäre onkologische Versorgung in Deutschland und beispielgebend für andere Länder, von denen einige bereits zertifizierte Zentren etabliert haben.

In seinem Editorial zur WiZen-Studie geht der Gasteditor, Andreas Stang, vor allem auf methodische Schwierigkeiten ein, mit denen eine derartige Untersuchung mehr oder weniger zwangsläufig konfrontiert ist. Die WiZen-Studie ist keine randomisierte, kontrollierte, prospektive Studie. Allerdings ist es schwer vorstellbar, zu dieser Fragestellung (Lässt sich die onkologische Versorgung durch leitliniengerechte, qualitätsgesicherte Versorgung in einem zertifizierten Zentrum für Patientinnen und Patienten flächendeckend und signifikant verbessern?) eine randomisierte, kontrollierte Studie durchzuführen. Wir brauchen für derartige Analysen wahrscheinlich innovative wissenschaftliche Ansätze aus der Versorgungsforschung und Epidemiologie.

Ein Aspekt der WiZen-Studie ist mir besonders wichtig. Die DGVS engagiert sich gemeinsam mit vielen anderen wissenschaftlichen Fachgesellschaften mit ihren Expertinnen und Experten, die alle ehrenamtlich arbeiten, seit über 20 Jahren erfolgreich bei der Erstellung von S3-Leitlinien, also Leitlinien der höchsten Evidenzstufe. Das von Deutscher Krebshilfe, AWMF und Deutscher Krebsgesellschaft getragene onkologische Leitlinienprogramm erfasst mittlerweile über 90% aller onkologischen Entitäten mit S3-Leitlinien und ist damit das weltweit größte derartige Programm. Die aufwändige Erstellung und regelmäßige Aktualisierung dieser Leitlinien ist eine wichtige Aufgabe. Genauso wichtig ist die Implementierung der Leitlinienempfehlungen in der Versorgung. Hierzu gibt es weltweit zahlreiche Ansätze, die in ihrer flächendeckenden Wirksamkeit nicht gut untersucht sind. Die Kriterien der Zertifizierung werden von den Fachgesellschaften selbst im interdisziplinären Diskurs „bottom up“ erarbeitet und orientieren sich auch mit den abgeleiteten Qualitätsindikatoren eng an den Empfehlungen der jeweiligen S3-Leitlinie. Sie werden kontinuierlich in den Zertifizierungskommissionen überprüft. Durch die regelmäßigen Audits an den Zentren entsteht für das Zentrum, aber auch übergreifend, eine sehr gute Sicht, inwieweit leitliniengerechte Therapie am Zentrum/den Zentren umgesetzt wird. Das wird auch in den publizierten Jahresberichten der Zentren dokumentiert. Und diese Arbeit – das zeigt die WiZen-Studie – lohnt sich. Patientinnen und Patienten, die an den häufigsten Tumorerkrankungen leiden, profitieren hinsichtlich des Überlebens signifikant von der Behandlung in einem Zentrum, insbesondere dann, wenn die Versorgung interdisziplinäre Behandlungskonzepte erfordert.

Wir haben in Deutschland damit nicht nur eine einzigartige Leitlinienkultur und ein einzigartiges Konzept für eine flächendeckende Umsetzung von Leitlinien etabliert, sondern jetzt auch den Beleg, dass diese Strukturen signifikant das Überleben von Patientinnen und Patienten verbessern. Darauf können alle, die zu diesem Erfolg beigetragen haben und beitragen, stolz sein. Zertifizierte Zentren, in denen auch Mindestmengen gelten, werden erfreulicherweise zunehmend von der Politik als Strukturen für die Planung von Versorgung akzeptiert. Die methodische Kritik sehe ich als Appell an die Methodiker, ihre Instrumente weiterzuentwickeln, um die wissenschaftliche Bewertung dieser einzigartigen und innovativen Strukturen zu verbessern.

Mit herzlichem Gruß
Ihr Thomas Seufferlein



Publication History

Article published online:
11 December 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany