psychoneuro 2008; 34(6/07): 287
DOI: 10.1055/s-0028-1083830
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychiatrische Sozialmedizin

Jürgen Fritze
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Juli 2008 (online)

Ziel einer psychiatrischen Therapie ist nicht nur die psychopathologische Symptomfreiheit oder zumindest –linderung, sondern auch die Lebensqualität und in deren Zusammenhang die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Lebensqualität ist eines der Kriterien, mit denen der Gesetzgeber (u.a. § 35b SGB V: Bewertung des Nutzens und der Kosten von Arzneimitteln) und der Gemeinsame Bundesausschuss die Patientenrelevanz therapeutischer Wirkungen operationalisiert hat. Auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hat der Gesetzgeber mit dem SGB IX einen Rechtsanspruch garantiert.

Die sozialmedizinische Relevanz psychischer Krankheiten nimmt zu, zumindest – bei der Frühberentung – relativ (in 2005: Männer 28 %, Frauen 38 %), bei den Arbeitsunfähigkeitszeiten auch absolut. Die Krankenhaushäufigkeit hat von 1994 bis 2006 von 89 auf 129 pro 10000 Einwohner (65 % davon in psychiatrischen Einrichtungen), also um rund 46 %, zugenommen. Obwohl die Verweildauer im gleichen Zeitraum von 40,7 auf 20,9 Tage, d.h. um 49 % abgenommen hat (alle Einrichtungen), sind die Belegungstage zwar um etwa 25 % gesunken, stagnieren aber seit 2000 bei ca. 22 Mio. Tagen. Dahinter steht wahrscheinlich weniger eine zunehmende psychische Morbidität als eine zunehmende, berechtigte Inanspruchnahme, die auch eine erfreulich steigende Erkennensrate und Akzeptanz psychischer Krankheit und damit abnehmende Stigmatisierung signalisieren kann.

Mit guten Gründen ist die Rehabilitation gesetzlicher Auftrag (Psychiatrie–Personalverordnung, Psych–PV) auch der psychiatrisch–psychotherapeutischen Akutversorgung als Leistung der GKV. „Nur” soweit es sich um das Erhalten oder Wiederherstellen der Erwerbsfähigkeit geht, fällt sie in die Leistungspflicht der Rentenversicherung – soweit gegen diese Leistungsansprüche erworben werden konnten –, ansonsten der Sozialhilfeträger. Öffentlich zugängliche, systematisch publizierte Statistiken über Rehabilitationsleistungen finden sich nur bei der Deutschen Rentenversicherung Bund. Stationäre Rehabilationsleistungen aufgrund psychischer Krankheiten haben inzwischen bei Männern rund 17 %, bei Frauen rund 20 % erreicht (Stand: 2005). Bei besonders schweren Erkrankungen wie den Schizophrenien ist die Wahrscheinlichkeit von Rehabilitationsleistungen vor Berentung unterdurchschnittlich, so erfolgten z.B. im Jahr 2005 nur bei 824 Frauen und 1016 Männern mit einer Diagnose aus F20 bis F29 (Schizophrenie und andere psychotische Störungen) stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation für Erwachsene zu Lasten der Rentenversicherung (RV). Nur bei weniger als 30 % wurde die Leistungsfähigkeit nach Abschluss der Maßnahme mit „6 Stunden und mehr zumutbar” beurteilt. Die geringe Zahl der Rehabilitationsleistungen erklärt sich vermutlich daraus, dass diese Kranken wegen der Erkrankung in jungen Jahren Leistungsansprüche gegen die RV nicht erreichen.

Dem Bericht der Arbeitsgemeinschaft der Rehabilitation psychisch Kranker (RPK) ist zu entnehmen, dass 1 Jahr nach Abschluss der Maßnahme nur 17 % der psychisch Kranken in das Erwerbsleben integriert waren, 22 % befanden sich in Aus– oder Weiterbildung, 15 % waren auf dem zweiten Arbeitsmarkt in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig, 15 % waren arbeitssuchend, 23 % waren auch nach der Rehabilitation arbeits– oder erwerbsunfähig.

Die Vernetzung der Leistungen der verschiedenen Kostenträger scheint Optimierungspotenziale zu bergen. Die Schnittstellenprobleme wären durch eine systematische, leitlininengestützte Vernetzung zu lindern, insbesondere wenn eine trägerübergreifende integrierte Versorgung analog SGB V §140aff gesetzlich ermöglicht würde, wie für die Pflegeversicherung (SGB XI) mit dem GKV–Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV–WSG) vollzogen. Bereits bestehende Möglichkeiten, wie z.B. den betriebsärztlichen Dienst in die berufliche Wiedereingliederung einzubeziehen, scheinen bisher wenig genutzt zu werden.

Die psycho neuro bietet vor diesem Hintergrund in einer Serie von Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven einen Überblick über Bemühungen, Defizite, Schwierigkeiten und Chancen zur Integration der Versorgung psychisch Kranker – auch unter Mitwirkung der Krankenkassen und ihres Medizinischen Dienstes (MDK).

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Pulheim