Psychiatr Prax 2009; 36(3): 106-109
DOI: 10.1055/s-0028-1090128
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Marktwirtschaftlicher Wettbewerb zur Verbesserung der ambulanten psychiatrischen Versorgung

Economic Competition in the Market to Improve Outpatient Psychiatric CarePro: Hans  Joachim  Salize, Kontra: Christa  Roth-Sackenheim
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
03. April 2009 (online)

Pro

Eines der grundlegenden Theoreme der sogenannten „freien” Marktwirtschaft besagt, dass die Nachfrage unabhängiger und aufgeklärter Verbraucher das Angebot und damit die Preise der Waren auf dem freien Markt bestimmen. Dass dieser ökonomische Mechanismus im Spätkapitalismus einer weitgehenden Angebotsorientierung gewichen und damit zur Ideologie geworden ist, zeigen u. a. die aufgeblähten PR-Budgets vieler Konzerne, die manchmal sogar höher sind als die eigentlichen Produktionsetats und massiv auf die Weckung künstlicher Bedürfnisse sowie die Ausweitung und Dominanz von Absatzmärkten abzielen – bis hin zum Kollaps dieser Märkte, wie die gegenwärtige Finanzkrise eindrucksvoll belegt.

In dem im Vergleich zum allgemeinen Wirtschaftsleben ungleich stärker staatlich geregelten Gesundheitssektor gilt die Nachfrageorientierung noch viel weniger. Müssten sich die Angebote psychiatrischer Dienste tatsächlich nach der Nachfrage, d. h. den subjektiven Bedürfnissen der Klientel richten, deren Versorgungsvorstellungen und -wünsche sich stark vom fachlich bestimmten Bedarf unterscheiden, würde das viele Einrichtungen der psychiatrischen Versorgung sehr schnell in die Insolvenz treiben. Ein weiterer Effekt wäre vermutlich eine massive Steigerung der Zwangseinweisungsraten.

Aufgrund der charakteristischen Krankheitsmerkmale psychischer Störungen wie kognitive Beeinträchtigungen, Negativsymptomatik, Selbst- und Fremdgefährdung, Wahnsymptome, mangelnde Krankheitseinsicht, defizitäres Hilfesuchverhalten usw. wird die psychiatrische Versorgung immer eine starke angebotsorientierte Komponente aufweisen müssen und damit den Wirkmechanismen eines „freien” Marktes widersprechen. Es ist ein unumgänglicher und nie endender Prozess, die Steuerungsmechanismen der Inanspruchnahme psychiatrischer Hilfen immer wieder neu zu justieren. Neben Wirtschaftlichkeitsfragen werden mit dieser Steuerung auch ethische Fragen nach den Grenzen von Fremdbestimmung in der Versorgung psychisch Kranker aufgeworfen.

Wenn die Preise für psychiatrische Leistungen nicht durch Marktnachfrage frei bestimmt werden können, unterliegen auch sie einer Fremdregelung. Diese Regelungsprozesse sind jedoch nicht notwendig an eine Steuerung der Inanspruchnahme gebunden. Sie sind auch nicht naturwüchsig, wenn man dies angesichts der Festgefügtheit von Finanzierungsverantwortungen und Budgetgrenzen im deutschen Gesundheitswesen auch manchmal zu glauben geneigt ist. Die Teilung der Finanzierungshoheiten in der Versorgung psychisch Kranker in Deutschland zwischen Krankenkassen, kassenärztlicher Vereinigung, überörtlicher Sozialhilfe und Rentenversicherung ist historisch gewachsen. Auch wenn sie aufgrund der langen Tradition unverrückbar wirkt, bleibt diese Aufteilung nichtsdestotrotz künstlich und steht den fachlichen Versorgungsanforderungen einer modernen Psychiatrie entgegen. Die getrennte Finanzierungsverantwortung von stationärer, ambulanter und rehabilitativer Versorgung wurde spätestens mit der Abschaffung der Anstaltspsychiatrie obsolet. Die Psychiatriereform hat jedoch die historische Chance einer grundlegenden Modernisierung der starren und fragmentierten Entgeltsysteme versäumt, obwohl Enthospitalisierung und Flexibilisierung der Versorgungssettings ihr erklärtes Programm war. Somit werden durch die Finanzierungsformen auch 30 Jahre nach der Psychiatriereform weiterhin grundsätzlich falsche Anreize gesetzt und das „anerkannte Übel” [1] der psychiatrischen Versorgung hierzulande zementiert. Dieses besteht darin, dass eine zeitgemäße Psychiatrie die personenbezogene Sicht- und Vorgehensweise in der Behandlung der Betroffenen notwendig macht, sie aber gezwungen ist, dies in einem nach wie vor einrichtungsbezogen strukturierten Versorgungs- und Finanzierungssystem umzusetzen. Alle praktischen Probleme wie separierte Versorgungssektoren, gedoppelte Versorgungsstrukturen, unterbrochene Behandlungsketten, mangelnde Fallsteuerung usw. sind auf diesen grundsätzlichen Widerspruch zurückzuführen.

Alle größeren versorgungspolitischen Initiativen der letzten Jahre arbeiten sich an diesem Problem ab. Dazu zählen die beispielhaft zähen Aktivitäten der Aktion Psychisch Kranke, personenzentrierte Sicht-, Arbeits- und Finanzierungsweisen zu propagieren [2], wie auch die in der Psychiatrie mehr diskutierten als tatsächlich umgesetzten integrierten Versorgungsmodelle. Sie stellen die jüngsten Hoffnungsträger in einer Reihe von Versuchen dar, die Finanzierungsweisen zu flexibilisieren.

Wie jedoch auch die Befunde aus dem Itzehoer integrierten Versorgungsmodell, als dem bisher einzigen, das hierzulande wissenschaftlich begleitet und publiziert wurde [3], zeigen, müssen alle diese Initiativen sich notgedrungen mit sehr bescheidenen Erfolgen zufriedengeben. Das liegt daran, dass sie keine Lösung bieten für die simple Tatsache, dass jeder Einrichtungs- und Finanzierungsträger im fragmentierten System betriebswirtschaftlich agieren muss und im Zweifelsfall die Minderbelastung des eigenen Etats über alle Systemüberlegungen oder übergeordnete Sichtweisen stellt. Der heilige St. Florian („…verschon' mein Haus, zünd' andere an”) ist und bleibt der Schutzheilige der Finanzierungsträger im deutschen Gesundheitswesen.

Die weitgehende Erfolglosigkeit der bisherigen integrierten Versorgungsmodelle beruht darauf, dass sie viel zu zaghaft, nämlich in der Regel nur die ambulant-ärztliche sowie voll- und teilstationäre Versorgung, integrieren. Gesundheitsökonomische Analysen zeigen aber, dass die Kostenvarianz vor allem bei chronischen psychischen Störungen nur zu rund 50 % durch stationäre, teilstationäre und ambulante ärztlich-psychiatrische Leistungen aufgeklärt wird. Programme, die sich nur auf diese Versorgungssektoren beziehen, erreichen möglicherweise moderate Kostenverschiebungen innerhalb dieser Sektoren, können aber keine Wirkung in den Versorgungsbereichen entfalten, die die andere Hälfte der Kosten verursachen [4] [5]. Inwieweit die bisherigen Modelle tatsächlich die ambulante Versorgung psychisch Kranker „verbessern”, bleibt dahingestellt und zudem – aufgrund des Fehlens aussagekräftiger Wirksamkeitsindikatoren – methodisch überaus schwierig nachzuweisen.

Somit ist die gegenwärtige Versorgungsrealität gekennzeichnet von vielen individuellen, regionalen und oft unter großen Eigenbelastungen der Beteiligten ermöglichten Versuchen, die Grenzen des starren Versorgungs- und Entgeltsystems so zu dehnen, damit über Einrichtungs- und Sektorgrenzen hinweg halbwegs sinnvoll kooperiert werden kann. Damit werden die Systemgrenzen jedoch nicht transzendiert. Die Höhe der durch die starren Finanzierungsformen unausgeschöpft bleibenden Synergien ist unbekannt, kann aber als wesentlich vorausgesetzt werden.

Was also tun? In einem wie beschrieben strukturierten System einfach nur mehr marktwirtschaftlichen Wettbewerb der Anbieter als Lösung des Dilemmas zu propagieren, wäre nichts weiter als zynischer Neoliberalismus. Auf den starken Mann oder die starke Frau zu warten, der oder die die Finanzierungssysteme dergestalt reformiert, dass sie einer patientenzentrierten Perspektive folgen, ist ebenfalls müßig. Bisher hat sich noch kein Gesundheitsminister diese Aufgabe überhaupt je auf die Fahne geschrieben, weil damit seine Demission von vornherein programmiert wäre. Also bleibt gegenwärtig nur, die Politik der kleinen Schritte weiterzuführen. Diese muss die zarten Liberalisierungstendenzen der Entgeltsysteme aufgreifen und konsequenter als bisher um- und durchsetzen. Dazu gehört unter anderem Folgendes:

Monetäre Anreize wären so zu setzen, dass diejenigen Dienste, die zu einer bedarfsgerechten, aber kostengünstigeren psychiatrischen Behandlung beitragen, auch in den Genuss der erwirtschafteten Einsparungen kommen (die vor allem im stationärpsychiatrischen Sektor anfallen, da Verringerung oder Vermeidung stationärer Aufenthalte der stärkste Hebel zur Kostendämpfung ist). Dies erfordert die Implementierung von Dokumentationssystemen, die diesbezügliche Wirkzusammenhänge ablesen lassen sowie eine wissenschaftliche Begleitforschung von entsprechenden Modellprojekten, mit denen die generierten Nutzeffekte quantifiziert werden. Integrierte Versorgungsmodelle oder Managed-Care-Programme müssen auf Einrichtungen und Dienste des rehabilitativen Sektors ausgeweitet werden, um die bisherigen halbherzigen Ansätze der Flexibilisierung nur der stationärpsychiatrischen und ambulant-fachärztlichen Behandlung auf alle relevanten Versorgungsbereiche zu erweitern.

Diese Maßnahmen sind mit einem nicht unerheblichen organisatorischen, methodischen und politischen Aufwand verbunden. Sie erfordern zudem so etwas wie einen runden Tisch aller relevanten Finanzierungsträger in der Region, die ein entsprechendes Modell wagen will. Die Vorschläge bewegen sich jedoch im Rahmen dessen, was politisch gegenwärtig möglich ist, ohne dass sie das etablierte Entgeltsystem grundlegend infrage stellen. Sie sind gleichbedeutend mit mehr „Markt” (um die von dieser Debatte geforderte Terminologie aufzugreifen) und wahrscheinlich tendenziell fairerem Wettbewerb der Anbieter. Vor allem die Möglichkeit für Einrichtungsträger, mit guter Versorgung Gewinn zu erwirtschaften, dürfte eine bisher unbekannte Kreativität und damit Synergie entfalten.

Da die Debatte um die Entgeltverfahren der stationärpsychiatrischen Versorgung zurzeit wieder Fahrt aufnimmt und in einigen Teilen Deutschlands ein deutlicher Trend zur Regionalisierung der Versorgung zu beobachten ist (z. B. durch die Kommunalisierung der Eingliederungshilfen in Baden-Württemberg), ist das Klima für innovative Ansätze der Versorgungsfinanzierung gegenwärtig eher günstig. Die Chance sollte nicht vertan werden.

Literatur

  • 1 Schmidt-Michel P, Kuhn F, Bergmann F. Die integrierte Versorgung per Gesetz ist für die Psychiatrie gescheitert.  Psychiat Prax. 2008;  35 57-59
  • 2 Kunze H. Personenbezogene Behandlung in psychiatrischen Kliniken und darüber hinaus – Gute Praxis und Ökonomie verbinden.  Psychiat Prax. 2007;  34 145-154
  • 3 Roick C, Heinrich S, Deister A. et al . Das Regionale Psychiatriebudget: Kosten und Effekte eines neuen sektorübergreifenden Finanzierungsmodells für die psychiatrische Versorgung.  Psychiat Prax. 2008;  35 279-285
  • 4 Kilian R, Angermeyer M. Der Einfluss der Neuroleptikabehandlung auf die Inzidenz und die Kosten stationärer psychiatrischer Behandlungen bei schizophren Erkrankten: Ergebnisse einer prospektiven Beobachtungsstudie.  Psychiat Prax. 2004;  31 138-146
  • 5 Salize H J. Die Kosten der Schizophrenie – Was wissen wir (nicht)?.  Psychiat Prax. 2001;  28 S21-S28
  • 6 Melchinger H. Umsteuerungen dringend geboten.  Dtsch Ärztebl. 2008;  105 (46) A2457-2460
  • 7 Melchinger H, Machleidt W, Rössler N. Psychiatrische Versorgung: Ausgaben auf dem Prüfstand.  Dtsch Ärztebl. 2003;  100 (44) A2850-2852
  • 8 Strukturen und Finanzierung der ambulanten neurologischen und psychiatrischen Versorgung, Institut für Gesundheits- und Sozialforschung IGES, Wichmannstraße 5, 10 787 Berlin,. Oktober 2007
  • 9 IQWIG . German health care: a bit of Bismarck plus more science.  British Medical Journal. 2008;  337 1142-1145

Dr. Christa Roth-Sackenheim

Breite Straße 63

56626 Andernach

eMail: c@dr-roth-sackenheim.de

Prof. Dr. Hans Joachim Salize

Arbeitsgruppe Versorgungsforschung, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

J 5

68159 Mannheim

eMail: hans-joachim.salize@zi-mannheim.de