Diabetologie und Stoffwechsel 2009; 4(1): 29-31
DOI: 10.1055/s-0028-1098797
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Normnahe Blutzuckerkontrolle oder HbA1c < 7 % bei Typ-2-Diabetes – hat 2008 die diabetologische Weltsicht erschüttert oder dringt die Sonne durch den Nebel?

Near to Normal Blood Glucose Control or HbA1c < 7 % in Type 2 Diabetes – Has 2008 Changed Diabetologist’s Conception of the World or is the Sun Coming through the Fog?M. Hanefeld1
  • 1Zentrum für klinische Studien, Forschungsbereich Endokrinologie und Stoffwechsel GWT der TU Dresden, Dresden
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
10. Februar 2009 (online)

Kardiovaskuläre Begleiterkrankungen und Komplikationen sind die wichtigsten Ursachen für exzessive Morbidität und Mortalität bei Typ-2-Diabetes [1]. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass für die Lebensqualität und Kosten die diabetesbezogenen Komorbiditäten Nephropathie, diabetischer Fuß, Neuropathie und Retinopathie nach wie vor die wichtigsten Determinanten und damit primäre Ziele diabetologischer Therapie sind [2]. Dass diese diabetesbezogenen Komplikationen von einer normnahen Blutzuckereinstellung mit HbA1c-Werten bis unter 6 % profitieren, wurde in der UK-PDS für alle Therapievarianten eindrucksvoll bewiesen [3] [4]. Gleiches gilt für die DCCT bei Patienten mit Typ-1-Diabetes [5]. Ausgehend von letzterer wurde auch das HbA1c als Goldstandard und primäre Zielgröße der glukozentrischen Diabetestherapie abgeleitet.

Wie steht es aber mit den kardiovaskulären Erkrankungen und der Gesamtmortalität? Ausgehend von der epidemiologischen Analyse der UK-PDS [3] und konsistenten Daten epidemiologischer Studien [6] wurden um die Jahrhundertwende 3 Megatrials (ACCORD, ADVANCE, VADT) gestartet, mit dem Ziel, das HbA1c < 6–6,5 % zu senken. Die 2008 publizierten Ergebnisse, zum Teil als Interimsreports, sorgten für beträchtliches Aufsehen und auch Verunsicherung, da in allen 3 Studien zwar das HbA1c in den Bereich von 6,4 bis 6,5 % gesenkt werden konnte, aber der erhoffte globale Effekt auf die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität nicht erreicht wurde [7] [8] [9].

Interessanterweise konnte in der ADVANCE-Studie nach fünf Jahren eine hochsignifikante Reduktion der Nephropathie um 21 % im Vergleich zur Kontrollgruppe erreicht werden [10]. Zum eigentlichen GAU geriet aber die ACCORD-Studie, in der die intensivierte Diabetestherapie – Ziel war HbA1c < 6 % – nach 4 Jahren vorzeitig abgebrochen wurde, da hier 257 Patienten verstarben, unter Standardtherapie aber nur 203, das bedeutet, pro 1 000 Patientenjahren eine Exzessmortalität von drei gegenüber konventioneller Therapie.

Inzwischen erschienen zahlreiche Kommentare und Editorials, die sich kritisch mit diesen Studien, insbesondere ACCORD, auseinandersetzten und eine Erklärung für dieses unerwartete Ergebnis suchen, das den Nutzen intensiver Bemühungen um eine gute Diabeteseinstellung bei Typ-2-Diabetikern in Frage zu stellen scheint [11] [12]. Eine sachkundige und schonungslose Kritik des Studiendesigns dieser Studie wurde vor kurzem von J. Schulze et al. [13] publiziert. Was war falsch an ACCORD? Das Ziel, der Weg oder die Zielgruppe? ACCORD schloss 10 251 Typ-2-Diabetiker im Alter von 40–82 Jahren ein, mittleres Alter 62 Jahre, Diabetesdauer 10 Jahre, HbA1c bei Studieneintritt im Mittel 8,2 %, Nüchternplasmaglukose 9,7 mmol / l. Die Mehrzahl der Patienten hatte fortgeschrittene kardiovaskuläre Begleiterkrankungen. Nach 6–9 Monaten wurden mit Antidiabetica ad libitum quasi mit der Dampfwalze die HbA1c-Werte in der Intensivgruppe auf 6,4 % gesenkt, bei konventioneller Therapie auf 7,5 %. Wie zu erwarten war das mit einer Zunahme schwerer Hypoglykämien (3,1 vs. 1 % in der Kontrollgruppe) verbunden. Dass die Patienten in der Intensivgruppe häufig im hypoglykämischen Bereich gelegen haben müssen, geht auch aus der rasanten Gewichtszunahme hervor: jeder Vierte nahm in der Intensivgruppe über 10 kg zu!

Es spricht Vieles dafür, dass es vor allem die Polypragmasie war, die den Patienten gefährlich wurde. In der Interventionsgruppe erhielten 52 % der Patienten drei orale Antidiabetika plus Insulin.

Es gibt keine Angabe, dass langwirksame Insulinsekretagoga bei Beginn der Insulintherapie abgesetzt wurden. Sulfonylharnstoffe plus Metformin – schon lange suspekt – wurden kürzlich als riskante Kombination in einer Metaanalyse herausgestellt [14]. Es gibt bis heute keine Evidenz für den Nutzen dualer Kombinationen, geschweige denn für Triples und Quartets. Bemerkenswerterweise hatten aber in allen 3 Studien die Patienten mit frühem Diabetes und wenig ausgeprägten kardiovaskulären Veränderungen einen signifikanten Benefit bezüglich kardiovaskulärer Events.

Zur ADA 2008 wurden auch die Ergebnisse einer Nachuntersuchung (Legacy Study) der UK-PDS, im Mittel 20 Jahre nach Beginn der Intervention, vorgestellt [4]. Die UK-PDS hatte 1977 beginnend 4 209 Patienten mit neu diagnostiziertem Typ-2-Diabetes nach dem Zufallsprinzip mit konventioneller Therapie (Diät) oder intensiver Therapie (entweder Sulfonylharnstoffe oder Insulin oder bei Adipösen (n = 588) Metformin) eingestellt. Nach 11 Jahren hatte nur Metformin die Sterblichkeit gesenkt. Nach 20 Jahren war aber auch die Sterblichkeit in der intensivierten Therapiegruppe um 13 % (p = 0,007) gegenüber konventioneller Therapie reduziert. Bereits 1996 hatte die Diabetesinterventionsstudie, die etwa zum gleichen Zeitpunkt wie die UK-PDS gestartet war, nachgewiesen, dass bei neudiagnostizierten Diabetikern eine gute Kontrolle des postprandialen Blutzuckers (4,4–8,0 mmol / l) im Vergleich zur ungenügenden Einstellung (> 10,0 mmol / l) nach Kriterien der NIDDM policy group bei einer 11-Jahres-Verlaufskontrolle mit einer um 32,9 % niedrigeren Gesamtmortalität verbunden war [15]. Sowohl DIS als auch UK-PDS hatten einen multimodalen Therapieansatz. In beiden Fällen dauerte es über 11 Jahre, ehe der Effekt einer bessern Glykämiekontrolle auf die Mortalität signifikant wurde. DIS und UK-PDS unterstreichen die Schlussfolgerungen von Holman et al.: „The findings strengthen the rationale for attaining optimal control and indicate emergent long-term benefits on cardiovascular risk.“ [4]

Zur gleichen Zeit wie ACCORD wurden die 13-Jahres-Ergebnisse einer multimodalen Interventionsstudie bei 160 Patienten mit Langzeitdiabetes, die Steno-2-Studie, veröffentlicht [16]. Die Patienten der Interventionsgruppe erhielten neben strikter Kontrolle von Blutdruck – vor allem mit ACE-Hemmern und Sartanen – und Lipiden (Statine, Fibrate) Aspirin. Während Blutdruck und Blutlipide im Zielbereich lagen, war das HbA1c am Ende noch immer bei 7,7 %, was im Vergleich zur Standardgruppe (8 %) nicht signifikant war. Dennoch wurde in der Interventionsgruppe eine eindrucksvolle Senkung diabetesbezogener Endpunkte und der Sterblichkeit erzielt ([Abb. 1]). Dies wurde dann schnell dahingehend interpretiert, dass bei guter Blutdruck- und Lipidkontrolle eine moderate HbA1c-Kontrolle ausreiche und wir unsere Bemühungen um einen komplikationsfreien Verlauf des Diabetes besser auf Blutdruck und Lipide fokusieren sollten. Ein etwas weiterer und differenzierter Blick auf die Ergebnisse der Steno-2-Studie zeigt aber eindeutig, dass die Patienten der Interventionsstudie im Vergleich zu nicht-diabetischen Personen aus Nordeuropa noch immer eine rund zweifach höhere Sterblichkeit hatten [17], denn 30 % der Patienten mit ansonsten so erfolgreicher multimodaler Therapie waren nach 13,3 Jahren verstorben, zu einem Zeitpunkt, als sie im Mittel 66 Jahre alt waren. Bereits in der MRFIT-Studie, der bis heute größten epidemiologischen Studie zu den klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren konnte überzeugend dokumentiert werden, dass bei Adjustierung auf die wichtigsten Risikofaktoren der Steno-2-Studie: Hypertonie, Rauchen und Hypercholesterinämie die Odds Ratio für kardiovaskuläre Mortalität im Falle der Kombination mit Diabetes das Zwei- bis Vierfache betrug [18], d. h. Diabetes ist und bleibt ein Hauptrisikofaktor, der behandelt werden muss. Extrapoliert man die Ergebnisse der hier diskutierten Studien und bringt sie in den Kontext mit dem gut dokumentierten Reichtum klinischer Erfahrungen und pathophysiologischen Studien zur Dysglykämielage [19], dann lassen sich einige Schlussfolgerungen für eine rationelle Therapie ableiten:

Eine gute Diabetesbehandlung kann nicht nur am HbA1c festgemacht werden, sondern muss auch die Glukotrias, bestehend aus Nüchternplasmaglukose, postprandialer Plasmaglukose und den Fluktuationen, mit einbeziehen. Nur so können potenziell tödliche Hypoglykämien vermieden werden und das Endothel wird vor glukotoxischen Effekten geschützt. DIS und UK-PDS – zwei Langzeitstudien bei neudiagnostizierten Typ-2-Diabetikern – lassen klar erkennen, dass frühe Intervention effektiv für diabetesbezogene Komplikationen ist und langfristig auch die Gesamtsterblichkeit senkt. Wie aus ORIGIN, einer Studie mit früher Insulintherapie bei Typ-2-Diabetes, hervorgeht, ist die Hypoglykämierate bei früher Intervention gering, viel niedriger als bei fortgeschrittenen Diabetikern (persönliche Mitteilung). Auch in ACCORD, ADVANCE und VADT profitierten am meisten die Patienten ohne fortgeschrittene Gefäßkomplikationen und kurzer Diabetesdauer. Evidenz bei fortgeschrittenem Diabetes für Endpunkte liegt nur für Monotherapie mit Pioglitazon 20 und – mit Einschränkungen – Metformin 21 und Acarbose 22 vor. In allen 3 Fällen handelt es sich um antihyperglykämische Substanzen mit minimalem Hypoglykämierisiko.

Abb. 1  Vergleich der Mortalität bei Typ-2-Diabetikern – berechnete jährliche Sterberate in Steno-2 [16] und der Finnischen Langzeitbeobachtungsstudie [6].

Schlussfolgerungen: Eine normnahe Einstellung der Glukotrias von Beginn des Diabetes an ist eine essenzielle Voraussetzung zur Vermeidung von Komplikationen und Erreichung einer durchschnittlichen Lebenserwartung. Die Therapieziele und der Weg, diese zu erreichen, sollte individuell anhand des globalen Risikos, des Diabetesstadiums und der realen Lebenssituation des Patienten festgelegt werden. Diabetesbehandlung ist mehr denn je eine ars curandi. Leitlinien setzen dafür nur einen (zeitlich begrenzten) Rahmen.

Literatur

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  • 9 VADT-Präsentation zur ADA 2008. 
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Prof. Dr. med. Markolf Hanefeld

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