Notfall & Hausarztmedizin 2008; 34(11): 521
DOI: 10.1055/s-0028-1105981
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Polypragmasie: viel nützt viel

Ulrich Rendenbach
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Publication Date:
27 November 2008 (online)

„Die meisten Menschen sterben an ihren Heilmitteln, nicht an ihren Krankheiten“, heißt es in Molières „Eingebildetem Kranken“. Diese Hypothese von 1673 hat noch heute ihre Berechtigung, denn die Anzahl der Interaktionen steigt mit der Anzahl der eingenommenen Arzneien hyperbolisch.

Manchmal ist Polypragmasie (eigentlich: viel Handlung) durchaus angezeigt, gibt es doch gerade beim Hausarzt Beschwerden, die sich nicht so leicht einem speziellen Fachgebiet zuweisen lassen. So reicht das Spektrum der möglichen Diagnosen bei dem Symptom „Müdigkeit“ von der Depression über die Hypothyreose zu einer chronischen Entzündung als Mitbringsel der letzten Reise in die Tropen. Nicht immer kann man zuwarten, bis weitere Symptome den richtigen Verdacht auf eine aus den Tausenden von Möglichkeiten lenken. So entscheidet der Hausarzt oft genug „aus dem Bauch“, welche technischen Untersuchungen weiterhelfen könnten, welche symptomatische Therapie zunächst die Symptome lindert: Abwendbar gefährlicher Verlauf oder abwartendes Offenlassen der Diagnose. Versucht man, Schmerzen und Erbrechen am Ende einer schweren Krankheit zu lindern, muss der Arzt zu verschiedenen Möglichkeiten gleichzeitig greifen. Auch die Homöopathie nutzt mit ihren Komplexmitteln eine Form der Schrotschussmethode. So enthält das Präparat Cutis Compositum immerhin 25 Wirkstoffe.

Aber das ist mit „Polypragmasie“ weniger gemeint. Der negativ besetzte Begriff steht für zu viele technische Untersuchungen und meint heute zuvorderst eine Behandlungsmethode, die ohne Konzeption, ohne Prioritäten mit vielen Arzneimitteln gleichzeitig einen therapeutischen Effekt erzielen will. Wenn man mit Schrot schießt, wird ein Körnchen schon treffen...

Über die Ursachen der Polypragmasie mag man lange grübeln. Schließlich beendet nahezu jeder Arzt die Konsultation mit der Verordnung einer Medikation. Zu hinterfragen ist auch der Trend, weniger die manifeste Krankheit eines individuellen Patienten zu diagnostizieren und zu therapieren, als das statistische Risiko, eine Folgekrankheit zu erleiden, für den Einzelnen und in einer Population zu senken – Stichwort NNT, number needed to treat, als statistische Maßzahl. Leitlinien wollen beachtet sein, und werden sie konsequent umgesetzt, kommt manch ein alter Patient im Seniorenheim auf 20 Medikamente! So erfordert eine leitliniengerechte Behandlung einer Myokardinsuffizienz NYHA III auf dem Boden einer koronaren Herzkrankheit allein schon 6 Wirkstoffe. Tritt dann noch ein „Alterszucker“ dazu und greift das DMP (Disease management program), ist kein Platz mehr in der Tablettenschachtel. Nicht auszudenken, wenn Vorhofflimmern, Osteoporose, Arthrosen und Schmerzen sich einstellen. Dann sind mit dem allgegenwärtigen Omeprazol und Marcumar® einerseits, und NSAR sowie ACE-Hemmern andererseits unvorhersehbare Wechselwirkungen möglich.

In dieser Ausgabe der Notfall & Hausarztmedizin wird der Entlassungsbrief einer 83-jährigen Patientin aus einem Fachkrankenhaus für Psychiatrie vorgestellt. Mit 22 Wirkstoffen regelmäßig und 4 bei Bedarf wurde sie entlassen. Wenigstens 6 unterschiedliche externe Fachärzte werden während des stationären Aufenthaltes zusätzlich um eine Untersuchung der dementen Patientin ersucht.

In der allgemeinmedizinischen Praxis sind solche Patientenschicksale keine Seltenheit mehr. Der Hausarzt muss bei seinem nächsten Hausbesuch die schwierige Entscheidung treffen, was künftig verordnet werden soll und welche Facharzttermine einzuhalten sind. Dies muss er vor dem Patienten und seinen Angehörigen vertreten – eine schwierige Aufgabe, da er fachärztlichen Anordnungen widersprechen muss.

Wir bitten daher unsere Leser, uns zu schreiben, wie ihr Vorgehen und ihr Therapieplan für die Patientin des auf S. 524 abgedruckten Arztbriefes aussähe. In einer der nächsten Ausgaben werden wir Ihre Vorschläge zur Diskussion stellen.

Dr. med. Ulrich Rendenbach

Torgau