ergoscience 2009; 4(1): 1
DOI: 10.1055/s-0028-1109046
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

S. Voigt-Radloff
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
27. Januar 2009 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

Schere und Klammer – das sind die zwei Symbole, die mir bei der Durchsicht der Manuskripte zu diesem Heft in den Sinn kamen.

Die Schere der möglichen Arbeitsfelder, in denen Ergotherapeuten tätig sind, geht immer weiter auseinander: Vertreter unseres Berufs könnten psychisch Erkrankten beim Umzug vom Wohnheim in die eigene Wohnung helfen (Plaehn und Bamberger, Seite 2). Sie könnten ebenso älter werdende Menschen mit einer geistigen Behinderung bei der Neugestaltung ihres Alltags im Übergang zur Rente unterstützen (Hundt et al., Seite 12). Des Weiteren untersuchen Ergotherapeuten die Wirkweise eines psychomotorischen Übungsgeräts (Heßler et al., Seite 23) und sollen dafür sorgen, dass auf ihren nationalen und internationalen Kongressen tatsächlich alle hochwertigen Forschungsarbeiten präsentiert werden (Offener Brief, Seite 32).

Was aber ist die gemeinsame Klammer einer Berufsgruppe, die sich für den Stress von psychisch Erkrankten beim Umzug, die Unsicherheit von Senioren mit einer geistigen Behinderung am Ende ihres Arbeitslebens, die Übungsmöglichkeiten bei Nutzung eines Rings mit zwei Griffen, die systematische Darstellung hochwertiger wissenschaftlicher Studien, multiple Alltagsrealitäten bei Anwendung der Fokusgruppen-Methode (Falkenhagen, Seite 34) und die produktive Partizipation an AIDS erkrankter Menschen (Sieweke und Grievel, Seite 36) interessieren soll?

Der zentrale Auftrag der Ergotherapie lautet, Alltagsaktivitäten zu ermöglichen, die die Gesundheit stabilisieren. Aus der Perspektive des Klienten ausgedrückt: Ergotherapie hilft mir, in meinem Alltag so tätig zu sein, dass mir wohl(er) ist. Dieser Auftrag, den uns Gesellschaft und Klienten erteilen, kann die gemeinsame Klammer sein, auch wenn sich die Vielfalt ergotherapeutischer Arbeitsfelder noch erweitert. Um in dieser Vielfalt ein spezifisches ergotherapeutisches Profil zu zeigen, sollten wir diesen Auftrag ins Zentrum unseres professionellen Handelns stellen. Die Artikel dieser Ausgabe wären dann kritisch zu lesen mit der zentralen Frage: Inwiefern trägt diese Originalpublikation, Studienzusammenfassung, Buchbesprechung oder Leserbriefaktion dazu bei, dass Menschen in ihrem Alltag so tätig sind, dass es ihnen wohlergeht?

Durch die zunehmende Akademisierung und die Notwendigkeit der Wirksamkeitsforschung in der Ergotherapie tut sich eine weitere Schere auf, nämlich die zwischen Forschung und Anwendung, zwischen Theorie und Praxis. Dürfen zukünftig nur noch Professoren entscheiden, welche Präsentationen wir auf unseren nationalen Kongressen erleben (Offener Brief, Seite 32)? Ist es richtig, dass Ergebnisse erster explorativer Forschung direkt in ein zu implementierendes Praxiskonzept münden (Quintessenz Hundt et al., Seite 22)? Hat also Anwendungsforschung in der Praxis für die Praxis Priorität, oder sind stattdessen Präsentationen methodisch hochwertiger Studien, die der Praktiker kaum noch versteht, zu favorisieren? Vorsicht ist anzuraten, wo wir dazu neigen könnten, eine der beiden Ebenen ausschließen zu wollen. Forscher und Anwender müssen zusammenarbeiten, damit nachweisbar wirksame Innovationen in der Praxis dauerhaft implementiert werden können. Vonseiten der Forschung sollte die Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in verständliche, in der Praxis „verdaubare Happen” geleistet werden. Dies geschieht durch die sogenannte „Knowledge Translation” (Sudsawad 2007). Auf der Seite der Praxis aber sind Neugierde und die Bereitschaft zu systematischer Innovation, kontinuierlicher Verbesserung und organisatorischem Wandel zu fördern (Voigt-Radloff 2004).

So laden wir Praktizierende, Lehrende, Studierende und Forschende zur Lektüre dieser Ausgabe ein, zur kritischen Reflexion, inwieweit ergoscience dazu beiträgt, Klammern zu finden, die ein markantes Profil in der ergotherapeutischen Vielfalt präsentieren.

Für das Herausgeberteam

Sebastian Voigt-Radloff

Literatur

  • 1 Sudsawad P. Knowledge translation: Introduction to models, strategies, and measures. Online Austin, TX; Southwest Educational Development Laboratory, National Center for the Dissemination of Disability Research 2007 Available PDF: www.ncddr.org/kt/products/ktintro/ktintro.pdf
  • 2 Voigt-Radloff S. Evidenz und Qualitätsmanagement – Ergotherapeutische Forschungs- und Entwicklungsaufgabe bei knappen Ressourcen.  Ergotherapie – Zeitschrift für Angewandte Wissenschaft. 2004;  5 (1) 11-20

Sebastian Voigt-Radloff

Zentrum für Geriatrische Medizin and Gerontologie, Universitätsklinikum Freiburg/Breisgau

Lehener Str. 88

79106 Freiburg

eMail: sebastian.voigt@uniklinik-freiburg.de