Psychiatr Prax 2010; 37(2): 53-55
DOI: 10.1055/s-0029-1223514
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Institutionalisierung psychisch kranker alter Menschen

Institutionalization of Mentally Ill in Old AgeSteffi  G.  Riedel-Heller1 , 2 , Melanie  Luppa1 , Hans-Helmut  König3
  • 1Public Health Research Unit, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Leipzig
  • 2Selbstständige Abteilung für Sozialmedizin, Universität Leipzig
  • 3Professur für Gesundheitsökonomie, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Leipzig
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
24. Februar 2010 (online)

Psychisch Kranke wieder in Institutionen

Die menschenunwürdigen Zustände für psychisch Kranke in den großen psychiatrischen Anstalten und das Wissen über die negativen Auswirkungen totaler Institutionen auf ihre Bewohner läuteten in den 70er-Jahren die Deinstitutionalisierung ein [1] [2], in deren Ergebnis die Bettenzahlen großer Einrichtungen deutlich reduziert wurden, psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern eröffnet wurden und eine gemeindenahe Versorgung psychisch Kranker etabliert wurde [3]. Aktuell sind wir mit einer neuen Institutionalisierungswelle konfrontiert. Dabei handelt es sich um die Einweisung von psychisch kranken alten Menschen in Altenpflegeheime. Diese Welle ist schon ins Rollen gekommen. Über die letzten 10 Jahre stieg die Zahl der Senioren in Pflegeheimen um fast 20 %, für die nächsten Jahre ist mit einer drastischen Zunahme zu rechnen [4] [5].

Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Im Zuge der demografischen Entwicklung mit einer steigenden Lebenserwartung bei gleichzeitigem Geburtenrückgang nimmt die absolute und relative Zahl der Senioren zu. Gleichzeitig gibt es weniger Personen im Erwerbsalter, die als potenzielle Pflegende infrage kommen. Kommen derzeit auf jeden Pflegebedürftigen über 65 Jahre 27 Erwerbstätige, werden es 2050 nur noch 10 Erwerbstätige sein. Verschärft wird dies durch singuläre Lebens- und Beziehungsformen und die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen [6] [7]. Mehrgenerationenhaushalte finden sich hierzulande kaum noch.

Die beiden wichtigsten psychischen Erkrankungen im Alter – Demenzerkrankungen und depressive Störungen spielen als Grund für Heimeintritte eine zentrale Rolle. Demenzerkrankungen sind dabei führend [8] [9]. Die Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung, eine über 10 Jahre durchgeführte bevölkerungsrepräsentative Kohortenstudie mit über 1000 Senioren konnte zeigen, dass es im Durchschnitt nur 2,9 Jahre dauert, bis Senioren, die in einem Privathaushalt wohnen und an Demenz erkranken, in eine Institution eingewiesen werden [10]. Heimeintritte sind für die Betroffenen und deren Angehörige keine leichte Entscheidung. Für die Gesellschaft ist eine Heimbetreuung zudem mit erheblichen Kosten verbunden. Krankheitskostenstudien weisen generell auf die enormen ökonomischen Belastungen durch Demenzen hin [11] [12]. Bedeutsamste Komponenten der Gesamtkosten sind nach den vorliegenden Schätzungen die unbezahlten Leistungen der pflegenden Angehörigen und die hohen direkten Kosten für die institutionelle Langzeitpflege. Mit ca. 50–70 % entfällt der Löwenanteil der direkten Kosten von Demenzerkrankungen auf die institutionelle Pflege [13].

Übersichtsarbeiten zeigen, dass für die Heimeinweisung eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle spielen [14]. Einem konzeptionellen Rahmen – basierend auf Arbeiten von Pearlin et al. [15], Pruchno et al. [16] und Andersen [17] [18] – folgend, unterscheiden Luppa et al. sogenannte „Predisposing, Need und Enabling variables”, die das Risiko und den Zeitpunkt für einen Übergang in eine Heimeinrichtung beeinflussen. Unter Predisposing variables werden hierbei soziodemografische Merkmale der Demenzkranken und pflegenden Angehörigen sowie Merkmale der Beziehung zwischen diesen subsumiert. Need variables beinhalten primäre und sekundäre Stressoren, die mit einer Demenzerkrankung assoziiert sein können. Primäre Stressoren umfassen Verhaltens-, kognitive und psychische Symptome der Demenzerkrankung. Wir wissen, dass besonders die nicht kognitive Symptomatik, wie zum Beispiel herausforderndes Verhalten, ein starker Prädiktor für eine Heimeinweisung ist. Zu den möglichen primären Stressoren zählen auch objektive Merkmale der Pflegesituation. Naheliegenderweise haben allein lebende Demenzkranke ein besonders hohes Institutionalisierungsrisiko [10]. Sekundäre Stressoren beinhalten hingegen die vom pflegenden Angehörigen wahrgenommene Belastung bzw. den wahrgenommenen Stress durch die Pflegesituation und die entsprechenden Rollenanforderungen. Enabling variables adressieren die Verfügbarkeit formeller und informeller Versorgungs- und Unterstützungssysteme (Verfügbarkeit von Heimeinrichtungen, ambulanter Pfleger, familiärer und sozialer Unterstützung) für den pflegenden Angehörigen, wie auch individuelle Ressourcen des pflegenden Angehörigen zum Umgang mit der Pflegesituation (z. B. Copingstrategien) [19] [20].

Bei der deutlich kleineren Gruppe, die nicht an Demenz erkrankt ist und trotzdem in ein Heim übergeht, spielen depressive Störungen eine wichtige Rolle. Somit lässt sich konstatieren, dass psychische Störungen im Alter die zentralen Gründe für eine neue Institutionalisierungswelle sind.

Literatur

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Prof. Dr. med. Steffi G. Riedel-Heller, MPH

Public Health Research Unit, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie & Selbständige Abteilung Sozialmedizin

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eMail: Steffi.Riedel-Heller@medizin.uni-leipzig.de