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DOI: 10.1055/s-0029-1244189
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Auswirkungen der Asbestfaserstaub-Exposition auf die Lungenfunktion – ein systematisches Review
Publication History
Publication Date:
14 July 2010 (online)
Pneumologie 2010; 64: 81 – 110
Antwort
Über das rege Interesse an unserem Artikel [1] freuen wir uns. Die vereinzelt sehr kritische Reaktion auf unsere Darstellung und deren Interpretation zeigt einerseits die offensichtliche Brisanz, die in der vorgeschlagenen Weiterentwicklung der Begutachtungspraxis, in den aufgeworfenen versicherungsrechtlichen Fragen sowie in der Darstellung und Interpretation des gegenwärtigen klinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstandes liegt, andererseits auch, dass an der einen oder anderen Stelle noch Erläuterungen erforderlich sind.
Laut aktueller Mitteilung des BMAS wurden im Jahre 2008 in Deutschland 3879 Fälle wegen des Verdachts auf eine Asbestose oder asbestbedingte Pleuraveränderung angezeigt, 1893 anerkannt, aber nur 410 erstmals entschädigt. Da wir durch die dargestellte Literatur darlegen, dass die gegenwärtige Begutachtungspraxis großteils nicht dem klinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand entspricht, haben die Schlussfolgerungen aus unserer Darstellung Implikationen, die über den fachwissenschaftlichen Diskurs hinausgehen, da damit erforderliche Veränderungen im Berufskrankheitenverfahren mit Verschiebungen finanzieller Lasten zwischen den Sozialversicherungssystemen verbunden sein können.
Bzgl. der von den Kollegen Woitowitz/Thielmann,
Quarcoo/Uibel/Groneberg, Müsken und Scheer aufgeworfenen Aspekte des
erforderlichen Umfangs der Lungenfunktionsprüfung verweisen wir zustimmend
auf die in den zitierten Literaturstellen dargestellte hohe Sensitivität
der Diffusionskapazität und der Belastungsuntersuchung (v. a.
Spiroergometrie). In mehreren Studien wurden hiermit im Frühstadium bei
noch normalen Spirometrie-Werten bereits pathologische Befunde erhoben. Wir
halten beide Verfahren für obligatorisch in der Begutachtung von BK
4103-Fällen. Auch die oft vernachlässigte Flussvolumenkurve sowie die
Compliance sind zur Beurteilung von Grenzfällen hilfreich.
Gerne
kommen wir den Anregungen nach, die uns zugänglichen Lungenfunktionsdaten
differenziert nach den einzelnen pleuralen Befunden und in Bezug zur
Expositionsdauer (-dosis) darzustellen (s. [Tab. 1]; [2 22]).
Hierbei sind die jeweils zugrunde gelegten Lungenfunktionsbezugswerte zu
berücksichtigen [23 43].
Es ist einheitlich erkennbar, dass leichte Einschränkungen sowohl in restriktiver als auch obstruktiver Hinsicht bei allen Schweregraden der asbestbedingten Pleurafibrose vorkommen. Es gibt erwartungsgemäß einen Trend zu stärkeren Abweichungen bei höhergradigen radiologisch fassbaren Veränderungen, bei Obliteration des kostophrenischen Winkels weicht in einzelnen Arbeiten die Lungenfunktion signifikant [2] [44] bzw. zweifach stärker ab [17]. Ansonsten lässt sich in den relativ wenigen Arbeiten, die Pleuraveränderungen genau beschreiben bzw. quantifizieren, keine im Einzelfall gutachterlich weiterführende Korrelation zwischen Ausmaß und Lokalisation der Pleurafibrose und der Funktionseinbuße ableiten. D. h. in jedem Einzelfall ist, wie auch Woitowitz/Thielmann ausführen, durch eine eingehende Diagnostik und Differenzialdiagnostik zu prüfen, ob und ggf. in welchem Ausmaß asbestbedingte Funktionseinschränkungen vorliegen [45]. Die dargestellten Befunde sprechen ebenso wie eine Reihe weiterer Arbeiten [10] [12] [46 51] für im Wesentlichen dosisabhängige, durch bildgebende Verfahren nicht bzw. nur teilweise detektierbare, funktionell aber bedeutsame pathophysiologische Prozesse in der asbestkontaminierten Lunge. Diese überlagern die eher nachrangige Funktionseinbuße, die sich aus der morphologisch fassbaren pleuralen und/oder parenchymatösen Fibrose ableiten lässt. Insofern missverstehen uns Kraus/Hering, wenn sie ausführen: „Somit sind Aussagen zur Verringerung der Lungenfunktion „alleinig” durch Pleuraveränderungen – insbesondere durch kleinere Pleuraplaques – aus derartigen Untersuchungen nicht zu sichern”. Eine rein morphologisch-mechanistische Betrachtung verkennt vielmehr die komplexen intrapulmonalen pathophysiologischen Prozesse. Wie anhand der tabellarischen Literaturdaten und in der Diskussion ([1], s. Seite 86) von uns näher ausgeführt, entsprechen Pleuraplaques einer erheblichen Belastung durch Asbestfasern, die in der Lunge bei ihrem teilweisen Weitertransport und ihrer Wanderung bis über die Pleura hinaus vielfach objektivierte Zellläsionen, Gewebeschädigungen und chronische inflammatorische Prozesse hinterlassen. Diese haben nach den dargelegten epidemiologisch-lungenfunktionsanalytischen Studien auch bei Vorliegen von Pleuraplaques ganz offensichtlich funktionelle Auswirkungen, welche aber nicht mit einem quantitativ entsprechenden radiologisch fassbaren Korrelat einhergehen [52]. Baker et al. [53] geben diese Situation wohl am treffendsten wieder: ”...Therefore, pleural disease in asbestos-exposed workers is not only an indicator of exposure but also an indicator of early impairment of pulmonary function”. In diesem Kontext ist auf die von Tannapfel/Neumann eingangs aufgegriffene, in der BAL nachweisbare lymphozytäre Alveolitis von Asbestexponierten zu verweisen, die nicht notwendigerweise mit einer histopathologisch objektivierbaren Fibrose assoziiert ist (vgl. [1] S. 86).
Die mit im Zentrum der inhaltlich kontroversen Diskussion stehende Frage, ob Asbestexposition mit einer obstruktiven Atemwegserkrankung einhergeht, bestätigt sich nach unserer inzwischen durchgeführten ergänzenden und gezielten Literaturrecherche [54]. Stellvertretend für eine Vielzahl von Arbeiten wird auf die Metaanalyse von Filippelli et al. (2008) [55] verwiesen, in der sich hoch signifikante Einschränkungen von FEV1/FVC, Flussvolumenparametern und ein signifikant erhöhter Rt ergaben (p jeweils < 0,001 bzw. 0,02).
Tannapfel/Neumann und Kraus/Hering bezeichnen unsere, bisher
umfassendste Publikation in einer deutschsprachigen Fachzeitschrift zu diesem
Thema als eine „hoch selektierte Datenbasis” bzw.
äußern: „Diese Forderung (… sollten die
wesentlichen Aussagen der Originalarbeit korrekt wiedergegeben werden) sehen
wir im Beitrag Baur und Wilken nicht erfüllt, was zu groben
Fehlinformationen des Lesers führen könnte”. Worauf sich diese
pauschalen Behauptungen begründen, bleibt unklar: Es mangelt an einer
einleuchtenden Begründung und analytischen Auseinandersetzung mit der sehr
umfassenden und komplexen Thematik. Exemplarisch werden aus der Vielzahl der
von uns detailliert dargestellten Arbeiten einige wenige herausgegriffen und
großteils aus dem Zusammenhang gelöst interpretiert.
Die
PubMed-Literaturrecherche wurde von uns ebenso wie der sonstige methodische
Ansatz im Methodik-Teil beschrieben. Eine anderweitige Selektion erfolgte
nicht; von uns wurden weitestgehend der über das Internet zu den
angegebenen MeSH-Terms zugängliche Publikationsumfang (die letzten 30
Jahre) sowie Arbeiten des eigenen Archivs und von Reviews berücksichtigt.
Wir zogen dabei sowohl die Studien auf Basis konventioneller
Röntgenuntersuchungen (n = 32) als auch diejenigen
mit (HR)CT-Aufnahmen (n = 19) heran.
Wie erwähnt, ergibt eine Gegenüberstellung dieser beiden radiologischen Verfahren in der Hand der sehr erfahrenen Arbeitsgruppen keine grundsätzlichen Unterschiede hinsichtlich der Lungenfunktionswerte. Wir haben den in den einzelnen Originalarbeiten erwähnten Raucherstatus wiedergegeben (vgl. Tabellen 1 – 4), auch inwieweit Adjustierungen hinsichtlich des Rauchens, des Alters etc. erfolgten.
In der Arbeitswelt gibt es kaum Monoexpositionen, wenn sich aber – wie die Literaturübersicht zeigt – bei naturgemäß variablen Begleitexpositionen kein eindeutiger Unterschied zwischen den einzelnen asbestexponierten Berufsgruppen nachweisen lässt, spricht dies stark für einen BK-bezogen relevanten Zusammenhang der festgestellten Funktionseinschränkung mit der allen Kollektiven gemeinsamen beruflichen Exposition gegenüber Asbest.
Bzgl. der Arbeit von Oldenburg et al. 2000 [56] ist anzuführen, dass sich hier leichte FVC-, FEV1- und FEV1/FVC-Einschränkungen in den Asbestkollektiven mit und ohne Pleuraplaques ergaben; es ist gerade eine unserer Kernaussagen, dass im Kontext mit Vorgenanntem bereits Kollektive ohne radiologisch fassbaren Befund eingeschränkte Lungenfunktionsparameter aufweisen (s. [1], S. 83).
Als Initiator und Co-chair der internationalen ERS-Task Force „New lung function reference values – a united approach” und langjähriger pneumologisch und arbeitsmedizinisch-gutachterlich tätiger Sachverständiger sind dem Erstunterzeichner die Probleme der Verwendung nicht zeitgemäßer Lungenfunktions-Sollwerte sehr gut bekannt. Es ist so, dass die Werte von Quanjer et al. 1983 [57] (identisch 1993 publiziert) im Vergleich zu allen neueren, epidemiologischen Ansprüchen genügenden Sollwert-Studien [58 66] um gut 10 % zu niedrig sind und das höhere Alter nur durch Extrapolation abdecken. Dies ist im Übrigen ein wesentlicher Grund dafür, dass einige Autoren (z. B. van Cleemput et al. 2001 [21]), welche diese Sollwerte zugrunde legten, im Gegensatz zu nahezu allen anderen Untersuchern, auch solchen, die ein HRCT einsetzen, keine Lungenfunktionseinschränkungen bei Vorliegen von Pleuraplaques fanden (letztere Arbeit ist entgegen der Ausführung von Kraus/Hering in Tabelle 2 unserer Arbeit ([1], (S. 97) ausführlich dargestellt).
Nach unserer zwischenzeitlichen Rücksprache mit einem
Teilnehmer der Delphi-Konferenz [67] und Einsichtnahme
in das damalige Abfrageergebnis ergibt sich folgender Sachverhalt: Die
englischen Statements No. 3 der Tabelle 1 („Asbestos exposure can cause
pleural plaques“), No. 7 („These clinical criteria are of
recognized value … a restrictive pattern of lung
impairment with a FVC below the lower limit of normal“) und No. 8
(„These clinical criteria are of recognized
value … a diffusing capacity below the lower limit of
normal“) sind sinnentsprechend in unserer deutschen Übersetzung
wiedergegeben. Es ist richtig, dass die Aussage „pleural plaques alter
lung function to a clinically significant degree” mehrheitlich in der
Delphi-Konferenz abgelehnt wurde. Die in der Delphi-Konferenz mehrheitlich
vertretene Auffassung mag in unserer Übersetzung der englischen
Überschrift der Tabelle 2 in der Originalarbeit („consensus
statements showing disagreement”) missverständlich sein. Gemeint
ist, wie Tannapfel/Neumann auch erwähnen, dass dieses Statement
überwiegend (konkret gab es 4 Gegenstimmen) abgelehnt wurde.
Auch unsere Aussage bzgl. der Nichtraucher ist wörtlich
übersetzt und korrekt wiedergegeben ([67],
Tabelle 3, No. 4: Statement without expert panel consensus: „A decline
of small airway flow rates in a non-smoker can be attributed to asbestos
exposure”; allerdings wurde versehentlich das Zeichen
„<” eingefügt, es muss sinngemäß heißen:
p 0,7637, d. h. hier gab es keinen Konsens.
Das im Leserbrief von Tannapfel/Neumann erweiterte Zitat aus den ATS documents [68] stützt durchgehend unsere Aussagen bzgl. des Auftretens restriktiver und obstruktiver Funktionseinschränkungen durch Asbest; eine isolierte Obstruktion wird dabei als ungewöhnlich dargestellt, aber nicht ausgeschlossen. Das wörtlich wiedergegebene englische Zitat von Copley et al. 2007 [69] bedeutet, dass die HRCT-Parameter die Lungenfunktion (dazu gehören auch deren Einschränkungen) nur zu etwa der Hälfte abschätzen lassen; auch dieses ausführliche Zitat entspricht unserer Aussage hinsichtlich einer radiologisch nur sehr eingeschränkt möglichen Quantifizierung asbestbedingter Funktionsausfälle (s. o.).
Die von uns mit initiierten Aktivitäten zur Qualitätssicherung und Aktualisierung der Diagnostik und Begutachtung asbestbedingter Erkrankungen folgen nun nicht der wiederholten Intention, Begutachtungsempfehlungen ohne eingehende Aufarbeitung der Literatur auszusprechen. Auch insofern war unser Review ein Erfolg.
Abschließend ist festzuhalten, dass eine Fülle von Literaturmitteilungen zu dieser nicht neuen Fragestellung, ob und ggf. welche Funktionsstörungen durch Asbest ausgelöst werden, vorliegt. Naturgemäß sind die Studien nicht immer homogen. In unserem systematischen Review konnten schon aufgrund des begrenzten Manuskriptumfangs nicht alle Aspekte vertiefend dargestellt werden. Wir stimmen daher mit Kraus/Hering bzgl. der Notwendigkeit weitergehender Literaturaus- und -bewertungen überein und werden uns hierbei gerne konstruktiv beteiligen. Vor allem eine genaue Analyse der Dosis-Wirkungs-Beziehungen könnte weiterführende BK-relevante Erkenntnisse bringen, die – wie Woitowitz/Thielmann zu Recht betonen – auf die nationale BK-Rechtsetzung anzuwenden sind und die ggf. Letztere fortentwickeln lassen. Die verlässlichste integrative Darstellung des medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstandes ist eine Metaanalyse, die die umfangreichen Studien gewichtet berücksichtigt. Wir haben inzwischen eine solche begonnen [70]. Das Beispiel zeigt, dass die klinisch-wissenschaftliche Diskussion unter Involvierung verschiedener „Schulen” und medizinischer Fächer festgefahrene und überholte Positionen und Praktiken – auch in Berufskrankheitsverfahren – korrigieren kann. Wir sind also auf gutem Weg, wenn wir diesen Prozess offen und fair fortsetzen.
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Prof. Dr. med. Xaver Baur
Dennis Wilken
Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und
Maritime Medizin
Seewartenstraße 10
20459 Hamburg
Email: baur@uke.uni-hamburg.de