Fortschr Neurol Psychiatr 2010; 78(2): 69
DOI: 10.1055/s-0029-1245149
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tiefe Hirnstimulation in Neurologie und Psychiatrie

Deep Brain Stimulation in Neurology and Psychiatry
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Publication Date:
09 February 2010 (online)

Die tiefe Hirnstimulation ist ein operatives Verfahren zur Ausschaltung „dysfunktionaler” Hirnaktivität in umschriebenen Kerngebieten des Gehirns durch dauerhafte hochfrequente Stromimpulse. Diese werden über Elektroden, die zuvor in definierte Zielgebiete implantiert worden sind, appliziert. Gegenwärtig gilt die Annahme, dass die dauerhafte Hochfrequenzstimulation einen läsionsähnlichen Effekt in einem Bereich von wenigen Millimetern um die Elektrodenkontakte herum erzeugt, sodass die dysfunktionale Hirnaktivität als Verursacher der Krankheitssymptome ausgeschaltet wird.

Die tiefe Hirnstimulation zur Behandlung neurologischer Bewegungsstörungen [1] hat sich klinisch als wichtige Therapieoption, insbesondere bei der Behandlung von idiopathischen Parkinson-Syndromen [2], dem essenziellen Tremor und der Dystonie in fortgeschrittenen Krankheitsstadien durchgesetzt, obwohl die exakten pathophysiologischen Mechanismen dieser Erkrankungen ebenso wenig bekannt sind wie der exakte Mechanismus, der dem Therapieeffekt zugrunde liegt. Letzteres ist nicht nur erstaunlich vor dem Hintergrund des zunehmenden Einsatzes der tiefen Hirnstimulation in der Neurologie, sondern auch im Hinblick auf die ständige Ausweitung ihrer Indikation. In der Neurologie führt der universelle (oder unspezifische?) Wirkmechanismus der tiefen Hirnstimulation inzwischen auch zum Einsatz bei chronischen Schmerzsyndromen oder therapierefraktären Epilepsien, obwohl die Datenlage hierfür oft unzureichend ist. Gasser et al. fassen in ihrem CME-Beitrag in dieser Ausgabe der Fortschritte den gegenwärtigen Wissensstand zum Thema tiefe Hirnstimulation bei neurologischen Erkrankungen zusammen und zeigen, dass diese Methode ein sicheres und sehr effektives Behandlungsverfahren bei neurologischen Bewegungsstörungen ist, wenn die Indikationsstellung korrekt erfolgt und gegebene Ausschlusskriterien beachtet werden.

Aufgrund pathophysiologischer Modelle trifft die tiefe Hirnstimulation aber auch zunehmend auf Interesse in der Psychiatrie [3]. Schwere Zwangserkrankungen, depressive Störungen oder Abhängigkeitserkrankungen [4] rücken dabei in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, auch hier wiederum insbesondere in Fällen, in denen eine Verhaltens- oder medikamentöse Therapie nicht zu akzeptablen Behandlungsergebnissen führen konnte. Die ersten Studienergebnisse sind ermutigend – so sind bei einer tiefen Hirnstimulation im Bereich des Nucleus accumbens erfolgreiche Remissionen von Alkohol-, Nikotin- oder Heroinabhängigkeit beschrieben [3]. Analog zur tiefen Hirnstimulation bei neurologischen Bewegungsstörungen sind aber auch hier weitere Untersuchungen zu den pathophysiologischen Grundlagen wie auch den Wirkmechanismen bei der jeweiligen Erkrankung notwendig, nicht zuletzt auch, um eine (noch) bessere (und vor allem auch dauerhafte) Wirksamkeit der Effekte der tiefen Hirnstimulation zu erreichen. Gleiches gilt für die Ausweitung des Einsatzes dieser Methode bei weiteren psychischen Störungen, wie Depressionen, dem Tourette-Syndrom, Angsterkrankungen oder dem Autismus [5].

Die bisher publizierten primären Ergebnisse zur Behandlung neurologischer Bewegungsstörungen weisen – richtige Indikationsstellung vorausgesetzt – die Wirksamkeit der tiefen Hirnstimulation eindeutig nach. Die publizierten Einzelfälle und kleineren Fallserien zur Behandlung psychiatrischer Erkrankungen mittels tiefer Hirnstimulation sind überaus vielversprechend und lassen hoffen, dass in Zukunft bei schwerstkranken, zuvor behandlungsresistenten psychiatrischen Patienten eine mehrheitlich deutliche Besserung des psychischen Befunds zu erzielen sein wird [5]. Die Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie werden dieses spannende Themengebiet auch weiterhin interdisziplinär intensiv verfolgen und begleiten. Damit die tiefe Hirnstimulation aber auch bei weiteren Erkrankungen, neurologisch oder psychiatrisch, ein sicheres und effektives Therapieverfahren werden kann, ist es wichtig, sowohl die Wirkmechanismen der tiefen Hirnstimulation besser zu verstehen als auch Tiermodelle zu entwickeln, die eine bessere Austestung von Zielorten wie auch intelligenter, neuer Stimulationsalgorithmen erlauben. Dies könnte dann auch dazu führen, dass die tiefe Hirnstimulation nicht nur in fortgeschrittenen Krankheitsstadien eine sinnvolle Therapieoption darstellt. All diese wichtigen Fragen zeigen den Bedarf für intensive klinische Forschung wie auch klinisch-orientierte Grundlagenforschung!

Prof. Dr. G. R. Fink

Literatur

Prof. Dr. Gereon R. Fink

Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie
Universitätsklinik Köln

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Email: gereon.fink@uk-koeln.de