Aktuelle Neurologie 2011; 38 - A18
DOI: 10.1055/s-0031-1276537

Molekulargenetische Befunde bei der zervikalen Dystonie

C. Kamm 1
  • 1Rostock

Sporadische „idiopathische“ fokale Dystonie mit Beginn im Erwachsenenalter ist die dritthäufigste Bewegungsstörung. Hiervon ist die zervikale Dystonie die häufigste Form. Obwohl vermutet wird, dass abnorme neuronale Aktivitäten, wahrscheinlich im Bereich der Basalganglien, den dystonen Symptonen zugrunde liegen, ist die genaue Pathogenese der zervikalen Dystonie weiterhin ungeklärt. Der relativ hohe Anteil von Patienten mit einer positiven Familienanamnese (2%-25%) legt nahe, dass eine genetische Komponente eine wesentliche Rolle in der Ätiologie dieser Erkrankung spielt, allerdings im Gegensatz zu anderen, selteneren, oft generalisierten Formen von Dystonie mit Beginn in der Kindheit wahrscheinlich überwiegend nicht im Sinne eines monogenetischen, sondern eines komplexen, polygenetischen bzw. multifaktoriellen Vererbungsmodus.

Bislang wurden nur einige wenige größere Multiplex-Familien mit hoher Penetranz beschrieben und in einer dieser Familien aus Norddeutschland mittels Kopplungsanalysen ein genetischer Locus, DYT7, auf Chromosom 18p identifiziert (Leube et al., Hum Mol Genet 1996, 5: 1673–77). Eine aktuelle klinische und genetische Re-Evaluation dieser Familie inklusive Videodokumentation ergab acht (zuvor sieben) definitiv und sieben (zuvor fünf) möglicherweise betroffene Familienmitglieder. Derzeit ist in dieser Familie die Genotypisierung weiterer genetischer Marker in der Chromosom 18p-Region vorgesehen in einem Versuch, das Kopplungsintervall weiter einzuengen.

Kürzlich wurde das ursächliche Gen für eine andere monogenetisch vererbte Form primärer Dystonie, DYT6, identifiziert. Eine Vielzahl von Mutationen in diesem Gen, THAP1, verursacht meist generalisierte oder segmentale Dystonie mit frühem Beginn, häufig mit prominenter spasmodischer Dysphonie. Mittlerweile wurden jedoch auch einige wenige Fälle von isolierter zervikaler Dystonie mit spätem Beginn, z.T. auch mit negativer Familienanamnese, mit assoziierten THAP1-Mutationen berichtet.

Eine Deletion von drei Basenpaaren, GAG, im DYT1-Gen ist eine weitere häufige Ursache von generalisierter Dystonie mit Beginn in der Kindheit, aber nur in sehr wenigen Fällen mit zervikaler Dystonie assoziiert. In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass Polymorphismen in der genomischen Region auf Chromosom 9q, die das DYT1-/TOR1A- und das benachbarte TOR1B-Gen beinhaltet, mit sporadischer „idiopathischer“ fokaler und segmentaler Dystonie assoziiert sind, sowohl in der isländischen als auch in der zentraleuropäischen Bevölkerung. Dies ist vereinbar mit der Hypothese, dass bei genetisch komplexen Erkrankungen häufige genetische Variationen, also Polymorphismen in Genen, die in mutierter Form seltene monogenetisch vererbte Formen derselben Erkrankung auslösen, oft mit den insgesamt wesentlich häufigeren „idiopathischen“ Formen assoziiert sind.