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DOI: 10.1055/s-0031-1276830
Evidence-based Medicine ist der Goldstandard der Leitlinienentwicklung
Evidence-Based Medicine is Gold Standard for Medical GuidelinesPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
21. Juni 2011 (online)
Pro
„Evidenzbasierte Medizin stellt die gewissenhafte, explizite und vernünftige Nutzung der aktuell besten Belege für die Entscheidungsfindung zur Behandlung individueller Patienten dar.” (David L. Sackett [1]; Übersetzung A. Pfennig)
In Leitlinien soll für definierte Versorgungsfragen das aktuelle Vorgehen der Wahl unter Abwägung von Nutzen und Schaden dargestellt werden. Sie sollen Ärzte und andere Therapeuten sowie die Patienten und ihre Bezugspersonen in Entscheidungssituationen unterstützen, die jeweils angemessenen Maßnahmen zu ergreifen [2].
So weit, so gut. Aber wer sollte festlegen, was das Vorgehen der Wahl ist? Der sehr erfahrene Kliniker? Eine Gruppe sehr erfahrener Kliniker? Eine Gruppe junger Mediziner mit aktuellem Wissen von der Uni? Oder lieber die forschenden Geister, die die neuesten Publikationen und die Neuigkeiten von den Kongressen kennen? Oder am Ende die Patienten und Angehörigen? Oder alle zusammen? Und welches Wissen ziehen wir heran? Alle Publikationen der letzten 30 Jahre? Oder das der Experten der Universitätskliniken? Und da ist doch gerade wieder ein dickes Lehrbuch neu aufgelegt worden, nehmen wir doch gleich das? Und wie passt das daraus extrahierte Vorgehen der Wahl dann auf unseren Herrn M., der morgen wieder in der Praxis erscheint und endlich wissen will, wie es weitergehen soll?
Was kann in diesem Prozess eine bessere Herangehensweise sein als die der evidenzbasierten Medizin? Keine, sage ich und lege dies gern im Folgenden dar.
Zu Beginn müssen wir dabei dringend klären, was ich unter evidenzbasierter Medizin verstehe: nämlich die Anwendung der bestmöglichen verfügbaren externen Belege auf die individuelle Situation im Rahmen meiner Möglichkeiten und orientiert an den Präferenzen meines Patienten. Und nun stellt sich die Frage, wie ich die bestmöglichen verfügbaren externen Belege effizient mit meinem eigenen Erfahrungsschatz vergleichen kann und Hinweise für Handlungsmöglichkeiten erhalte, die ich dann mit meinem Patienten und dessen Bezugspersonen diskutieren kann. Und da kommt die systematisch erstellte Leitlinie ins Spiel. Hier finde ich, wenn der Entwicklungsprozess erfolgreich war, im S3-Niveau [3] eine Verbindung aus systematischer Suche und Bewertung des verfügbaren publizierten Wissens und einer formalisierten Konsensusfindung einer idealerweise repräsentativen Gruppe aus Vertretern von Klinikern, eher wissenschaftlich arbeitenden und niedergelassenen Kollegen sowie von Patienten und Angehörigen.
Widmen wir uns dem ersten Aspekt, der systematischen Suche und Bewertung der besten verfügbaren Belege. Sicher ist es so, dass wir versuchen werden, die Literatur für unsere Entscheidungsfindung heranzuziehen, die mit dem geringsten Risiko für systematische Verzerrungen einhergeht (sog. Bias) – die also die beste Chance bieten, dass die Ergebnisse tatsächlich die Wirkungen, die ich von der in der Studie untersuchten Therapie bei den Patienten erwarten kann, wiedergibt. Natürlich hängt die Einschätzung dieses Biasrisikos erheblich von der Fragestellung ab. Und davon, mit welchem Studiendesign sich die Fragestellung am besten beantworten lässt.
Nehmen wir z. B. Psychotherapiestudien, so wissen wir nicht, was zu einer größeren Verzerrung führt, eine fehlende Verblindung mit der Folge veränderter Erwartungen an die Behandlung seitens des Patienten oder gerade eine Verblindung bei einer Intervention, die des Verstehens und der Mitarbeit des Patienten so dringend bedarf. Auch stehen sich ein randomisiertes Studiendesign und die Suche nach individuellen Responseprädiktoren gegenüber.
Ist die interne Validität hoch, muss das nicht für die externe gelten: Wir können davon ausgehen, dass die Teilnehmer einer randomisierten kontrollierten Studie immer Ein- und Ausschlusskriterien unterliegen, die sie als Gruppe homogener, für uns jedoch weniger repräsentativ machen. Zudem gleichen die Bedingungen in einer Studie nicht denen im praktischen Versorgungsalltag, womit sich die Ergebnisse nicht einfach übertragen lassen. Die für viele Fragen zweitbesten Belege könnten aus kontrollierten Beobachtungsstudien kommen, allerdings sind diese auch in der Psychiatrie rar. Über den Wert unkontrollierter Studien, von Fallserien oder Fallberichten kann man sicher streiten, im Rahmen der Leitlinienerstellung kommt ihnen meines Erachtens allenfalls ein Wert bei sehr seltenen Erkrankungen, bei ganz spezifischen Patientengruppen oder in speziellen Behandlungssituationen zu, die man nicht gut in höherwertigen Studien untersuchen kann. Insgesamt müssen wir einen hohen Anspruch gerade an die Bewertung der publizierten Ergebnisse von Studien legen, um deren Wert für unsere Entscheidungsfindung gut einschätzen zu können. Diese Bewertung fortlaufend immer wieder selbst vornehmen zu müssen ist dem praktizierenden Behandler, den Patienten und deren Bezugspersonen nur sehr eingeschränkt möglich und zuzumuten, zumal die Publikationsmengen weiterhin stetig steigen. Hier kann die Bewertung im Rahmen einer Leitlinienentwicklung sinnvoll genutzt werden. Natürlich müssen wir den Publikationsbias (ergebnisabhängig selektive Publikation von Studienergebnissen) genauso beachten wie fehlende Belege für Behandlungssituationen oder -optionen, die kommerziell nicht interessant sind und daher weniger Industriesponsoring erfahren. Zumindest wird bei der systematischen Sichtung offengelegt, auf wie viel publiziertes Wissen sich die Aussagen stützen können, es entsteht Transparenz. Im Falle sehr spärlicher oder fehlender Belege wird mehr Expertenwissen einfließen müssen, wenn eine Antwort auf eine drängende Frage formuliert werden soll. Der Anwender muss die Chance bekommen, die Gewichtung am Empfehlungsgrad und dessen Begründung nachvollziehen zu können.
In der S3-Leitlinienentwicklung folgt der Bewertung der Evidenz ein Konsensusprozess, in dem z. B. Risiken, ethische Bedenken, Verfügbarkeiten und Präferenzen Beachtung finden. Wie oben bereits angesprochen, kommt es hier darauf an, möglichst alle im Betreuungsprozess involvierten Personengruppen einzubeziehen. Eine Diskussion zum Mehrwert des S3- gegenüber anderen üblichen Leitlinienstandards sowie zu Problemen und Lösungsansätzen finden Sie unter [4].
Dass eine Leitlinie gerade kein Kochbuch ist, wird spätestens in der praktischen Anwendung beim individuellen Fall klar, nämlich dann, wenn gemäß des Ansatzes der evidenz-basierten Medizin weitere Fragen geklärt werden müssen: Trifft die geschilderte Entscheidungssituation (und damit die Empfehlung) meine aktuelle Frage zur Therapie von Herrn M.? Habe ich genügend Erfahrung bei der Anwendung der empfohlenen Therapieform? Was möchte Herr M. selbst? Wie viel Betreuung kann ich bieten, was können die Bezugspersonen tun? Die Verantwortung für diesen Prozess kann mir die Leitlinie nicht abnehmen, sie kann mir aber hoffentlich eine Leitschnur bieten.
Mein Fazit ist, dass die Grundsätze der evidenzbasierten Medizin sehr wohl den Goldstandard der Leitlinienentwicklung darstellen, wenn sie verantwortlich umgesetzt werden. Und wenn die Leitlinie auch unter diesen Rahmenbedingungen angewandt wird. Wie so oft bleibt viel zu tun, u. a. eine Weiterentwicklung der Bewertungskriterien für z. B. die angesprochenen Psychotherapiestudien. Und natürlich die intensive, offene Diskussion über den „richtigen” Weg zur Therapieentscheidung, zum Wohle unserer Patienten.
Literatur
- 1 Sackett D L, Rosenberg W MC et al. Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ. 1996; 312 71
- 2 AWMF, ÄZQ .Leitlinien-Manual von AWMF und ÄZQ;. 2001
- 3 Kopp I B. Perspectives in guideline development and implementation in Germany. Z Rheumatol. 2010; 69 298-304
- 4 Pfennig A, Kopp I, Strech D et al. Das Konzept der Entwicklung von S3-Leitlinien – Mehrwert gegenüber üblichen Standards, Problembereiche und Lösungsansätze. Nervenarzt. 2010; 81 1079-1084
- 5 Möller H J. Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie.. In: Möller H J, Kapfhammer H P, Laux G, Hrsg Psychiatrie und Psychotherapie.. Heidelberg: Springer; 2008: 972-983
- 6 Sackett D L. Evidence-based Medicine: How to Practice and Teach EBM.. New York: Churchill Livingstone; 2002
- 7 Srihari V H. Evidence-Based Medicine in the Education of Psychiatrists. Academic Psychiatry. 2008; 32 463-469
- 8 Härter M et al. Evidenzbasierte Therapie der Depression. Nervenarzt. 2010; 81 1049-1068
- 9 Kallert T W. Braucht psychiatrische Versorgungsforschung randomisierte kontrollierte Studien?. Psychiat Prax. 2005; 32 375-377
- 10 Schmacke N. Evidenzbasierte Medizin und Psychotherapie: die Frage nach den angemessenen Erkenntnismethoden. Psychother Psych Med. 2006; 56 202-209
- 11 Gilroy A. Art Therapy, Eesearch and Evidence-Based Practice.. London: Sage; 2006
- 12 Heimbeck A, Hölter G. Bewegungstherapie und Depression – Evaluationsstudie zu einer unspezifischen und einer störungsorientierten bewegungstherapeutischen Förderung im klinischen Kontext. Psychother Psych Med. 2011; 61 200-207
- 13 Barkham M, Mellor-Clark J. Bridging Evidence-Based Practice and Practice-Based Evidence: Developing a Rigorous and Relevant Knowledge for the Psychological Therapies. Clin Psychol Psychother. 2003; 10 319-327
- 14 Borgetto B, Born S, Bünemann-Geißler D et al. Die Forschungspyramide – Diskussionsbeitrag zur Evidenz-basierten Praxis in der Ergotherapie. Physioscience. 2007; 3 27-34
- 15 Wiklund I. Assessment of patient-reported outcomes in clinical trials: the example of health related equality of life. Fundamental Clin Pharmacology. 2004; 18 351-363
Prof. Dr. med. Andrea Pfennig, M. Sc.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden
Fetscherstraße 74
01307 Dresden
eMail: Andrea.Pfennig@uniklinikum-dresden.de
Prof. Dr. Gerd Hölter
TU Dortmund
Fakultät Rehabilitationswissenschaften
Lehrstuhl für Bewegungserziehung und Bewegungstherapie
Emil-Figge-Straße 50
44227 Dortmund
eMail: gerd.hoelter@tu-dortmund.de