Sprache · Stimme · Gehör 2011; 35(02): 68-69
DOI: 10.1055/s-0031-1281026
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Lese-Rechtschreibstörung (LRS) – Phonologische Informationsverarbeitung und Vorhersage von LRS

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Publication Date:
21 June 2011 (online)

 

Seit etwa 25 Jahren werden Zusammenhänge von Kompetenzen in phonologischer Informationsverarbeitung und Schriftsprache sowie diesbezügliche Konsequenzen diskutiert. Welche Erkenntnisse mit praktischer Relevanz zeichnen sich ab?
Z Entwicklungspsychol Päd Psychol 2010; 42: 188-200, 226-240

Schriftspracherwerb gründet auf phonologischen Vorläuferfähigkeiten, die vorschulisch erworben werden. Hierzu gehört die phonologische Informationsverarbeitung, ein Sammelbegriff für phonologische Bewusstheit, Geschwindigkeit phonologischen Rekodierens beim Zugriff auf das mentale Lexikon im Langzeitgedächtnis, Verarbeitungsgenauigkeit und Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses. Insbesondere phonologische Bewusstheit wie auch Arbeitsgedächtniskapazität gelten als Prädiktor für Lesen und Rechtschreibung und damit letztlich für Schulerfolg. In zahlreichen Studien wurde gezeigt, dass ein vorschulisches Training in phonologischer Bewusstheit sich positiv auf den Schriftspracherwerb auswirkt [1], [2].

Phonologische Informationsverarbeitung wird häufig vorschulisch oder in den ersten Schulwochen überprüft, um das Risiko eines Kindes für Lese-Rechtschreibstörungen (LRS) einzuschätzen (z.B. mit den Differenzierungsproben DP 1 u. 2, Bielefelder Screening BISC, Heidelberger Auditives Screening in der Einschulungsuntersuchung HASE, Münsteraner Screening MÜSC) und ggf. Förderbedarf abzuleiten ("präventive Förderung").

Steinbrink et al. [3] erhoben mit den DP, wie gut Differenzierungsleistungen von Kindern mit deutscher Muttersprache zu Beginn (DP 1) und in der Mitte der 1. Klasse (DP 2) ihre Lese-Rechtschreibleistungen zu Ende der 1. bzw. 2. Klasse vorhersagen. Die prognostische Validität der DP erwies sich als unzureichend, da sie nur 3–9 % der Varianz im späteren Lesen und Schreiben aufklärten. Sensitivitätsrate (DP 1: 10-33 %, DP 2: 17-55 %) und Prädiktortrefferquote (4-25 %) für LRS waren niedrig.

Hatz und Sachse [4] trainierten im Kontrollgruppenvergleich Erstklässler mit LRS-Risiko (IQ >84) in phonologischer Bewusstheit allein oder in Kombination mit Rechtschreibung. Für das phonologische Training wurde kein spezifischer Fördereffekt nachgewiesen – weder für phonologische Bewusstheit (vermutlich, weil diese regelmäßig im schulischen Anfangsunterricht geübt wurde) noch für Lesen und Rechtschreibung. Die Kombination von phonologischem Bewusstheits- plus Rechtschreibtraining (zur Entdeckung des alphabetischen Prinzips) zeigte zum Ende der 1. Klasse einen kurzfristigen Effekt, da bei wenigen Kindern unterdurchschnittliche Rechtschreibleistungen gemessen wurden. Am Ende des 2. Schuljahres war die Kinderzahl mit LRS weder in der homogenen noch in der kombinierten Interventionsgruppe bedeutsam niedriger. Wesentlicher: Kinder mit durchschnittlichen Leistungen in der 1. Klasse verschlechterten sich in der 2. Klasse (unterdurchschnittlich), was vermutlich der kurzen Trainingsmaßnahme von 7 Wochen geschuldet war.

Fazit

Die Prädiktionskraft des phonologischen Arbeitsgedächtnisses zum Erwerb von Schriftsprache ist geringer als die des Satzgedächtnisses [5], [6], sodass die alleinige Fokussierung auf das phonologische Arbeitsgedächtnis nicht ausreicht. DP 1 und 2 erlauben keine zufriedenstellende Vorhersage schulischer LRS. Doch auch andere Untersuchungsinstrumente (s.o.) sind diesbezüglich kritisch zu betrachten gemäß RATZ-Index, einem Maß der Vorhersagegüte [3]. Phonologische Bewusstheit ist eine notwendige, doch nicht hinreichende Voraussetzung für den Schriftspracherwerb.

Zur Optimierung der Vorhersagegenauigkeit für LRS gilt es, u.a. Intelligenzhöhe, sozioökonomischen Status, vorschulische Sprachverständnisleistungen sowie vorschulische Lese- und Rechtschreibkenntnisse zu berücksichtigen. Ein alleiniges Training in phonologischer Bewusstheit nach der Einschulung scheint zur Prävention von LRS nicht sinnvoll. Auf jeden Fall sollte frühzeitig eine intensive Rechtschreibförderung als präventive Unterstützung längerfristig durchgeführt werden. Dies gilt insbesondere für Kinder mit geringen Lernvoraussetzungen.

Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Christiane Kiese-Himmel, Göttingen

 
  • Literatur

  • 1 Blaser R, Preuss U, Groner M, Groner R, Feider W. Kurz-, mittel- und längerfristige Effekte eines Trainings in phonologischer Bewusstheit und in Buchstaben-Laut Korrespondenz auf die phonologische Bewusstheit und die Lese- und Rechtschreibleistung. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother 2007; 35: 273-280
  • 2 Bus AG, van Ijzendoorn MH. Phonological awareness and early reading: A meta-analysis of experimental training studies. J Educ Psychol 1999; 91: 403-414
  • 3 Steinbrink C, Schwanda S, Klatte M, Lachmann T. Sagen Wahrnehmungsleistungen zu Beginn der Schulzeit den Lese-Rechtschreiberfolg in Klasse 1 und 2 voraus?. Z Entwicklungspsychol Päd Psychol 2010; 42: 188-200
  • 4 Hatz H, Sachse S. Prävention von Lese- und Rechtschreibstörungen. Auswirkungen eines Trainings phonologischer Bewusstheit und eines Rechtschreibtrainings im ersten Schuljahr auf den Schriftspracherwerb bei Risikokindern. Z Entwicklungspsychol Päd Psychol 2010; 42: 226-240
  • 5 von Goldammer A, Mähler C, Bockmann AK, Hasselhorn M. Vorhersage früher Schriftsprachleistungen aus vorschulischen Kompetenzen der Sprache und der phonologischen Informationsverarbeitung. Z Entwicklungspsychol Päd Psychol 2010; 42: 48-56
  • 6 Schöler H. HASE. Ein Screening zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibstörungen. In: Schulte-Körne G. (Hrsg.) Legasthenie und Dyskalkulie. Aktuelle Entwicklungen in Wissenschaft, Schule und Gesellschaft. Bochum: Winkler; 2007