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DOI: 10.1055/s-0031-1291974
Schwerhörigkeit – Arbeitsgedächtnis unterstützt Sprachverstehen
Publication History
Publication Date:
30 September 2011 (online)
Es ist seit langem bekannt, dass mentale und kognitive Fähigkeiten das Sprachverstehen bei Patienten mit Hörgeräten unterstützen. Die Arbeit von Rudner et al. befasst sich nun mit sprachwissenschaftlichen und psychologischen Aspekten der Hörgeräteversorgung.
J Am Acad Audiol 2011; 22: 156–167
Da bekannt ist, dass mentale und kognitive Fähigkeiten mit fortgeschrittenem Lebensalter abnehmen, rät man Patienten mit "Presbyakusis" zu einer frühzeitigen Versorgung mit Hörgeräten: mit zunehmendem Lebensalter wird eine Erstversorgung nicht eben leichter. Doch auch bei schwerhörigen Kindern hat man die Erfahrung gemacht, dass gute mentale und kognitive Fähigkeiten das Sprachverstehen und die Sprachentwicklung fördern.
Die Akzeptanz einer Hörgeräteversorgung wird im Wesentlichen durch die Verbesserung des Sprachverstehens bestimmt, besonders in einer alltäglichen störgeräuschbelasteten Umgebung. Das Verstehen ist umso leichter, je größer die Redundanz der dargebotenen Sprache ist. Diese wiederum ist umso größer, je kürzer die Zeitkonstanten der Dynamikregelung eingestellt werden, die den Ausgangspegel bei leisen Eingangssignalen anhebt und andernfalls unterschwellige Eingangssignale in den überschwelligen Bereich anhebt. Schwerhörige hören dann mehr Silben, die aber das auditive Arbeitsgedächtnis belasten und nur für das Verstehen hilfreich sind, wenn sie auch gespeichert werden können. Deshalb wurde nun untersucht, wie sich bei Schwerhörigen das Arbeitsgedächtnis auf das Sprachverstehen im Störgeräusch auswirkt und wie die Zeitkonstante der Dynamikregelung – ein wichtiger Parameter bei der Hörgeräteanpassung – das Sprachverstehen im Störschall beeinflusst.
Das Arbeitsgedächtnis wurde mit einem (visuellen) Satzlesetest von Baddeley, dem "Entdecker" des Arbeitsgedächtnisses, ermittelt. 32 mit Hörgeräten der Firma Oticon, Modell Digifocus 2, versorgte Patienten (20 Frauen und 12 Männer, mittleres Alter 70 Jahre) wurden untersucht und in 2 Gruppen mit "hohem" und "niedrigem" Arbeitsgedächtnis klassifiziert. Sie wurden im Verlauf der Studie 5-mal – ohne und mit Hörgeräten – mit 2 verschiedenen sprachaudiometrischen Satztests untersucht. Es handelte sich um den schwedischsprachigen Hageman-Satztest, der wie der deutschsprachige Oldenburger Satztest (OlSa) eine sehr geringe semantische Redundanz aufweist. Außerdem wurde die schwedischsprachige Version des Hearing-in-Noise-Test (HINT) durchgeführt, der 6-Wort-Sätze mit hoher Redundanz enthält. Dazu ein Beispiel:
Wenn man beim Satz "… alte Mann … ein Buch" das 1. und 4. Wort nicht hören konnte, kann man den Satz trotzdem korrekt zu "Der alte Mann … ein Buch" ergänzen und mit etwas Glück sogar zu "Der alte Mann las ein Buch". Diese Satztests wurden jeweils mit 2 verschiedenen Hintergrundgeräuschen durchgeführt: einem kontinuierliches Rauschen mit dem Langzeitspektrum von Sprache sowie einem moduliertes Rauschen ("Gebrabbel"). Mit diesen Kombinationen wurden die Signal-Rauschabstände des 50-%-Verstehens aufgesucht, analog zum OlSa. Je negativer diese Werte, desto besser – sie bewegen in der Größenordnung von -5 dB. Dies bedeutet, dass der Proband noch 50 % versteht, wenn das Rauschen 5 dB lauter als das Sprachsignal ist.
Für die wenig redundanten Hagerman-Sätze waren die Signalrauschabstände mit und ohne Hörgeräte bei beiden Gruppen in moduliertem Rauschen etwa 2 dB besser als beim kontinuierlichen Rauschen. Das ist ja verständlich, denn das "Gebrabbel" lässt ein paar "Lücken", in denen man noch wertvolle Bruchstücke des Sprachsignals erkennen kann. Im Vergleich zu Probanden mit niedrigem Arbeitsgedächtnis konnten Probanden mit hohem Arbeitsgedächtnis in allen Störgeräusch- und Zeitkonstanten-Bedingungen etwa 1dB mehr Störgeräusch vertragen, um noch 50 % zu verstehen. Mit Hörgeräten und Einstellung kurzen Zeitkonstanten sowie moduliertem Rauschen waren die Signalrauschabstände nur bei Probanden mit hohem Arbeitsgedächtnis um 2 dB besser als mit langer Zeitkonstante. Bei Patienten mit niedrigem Arbeitsgedächtnis fehlte dieser positive Effekt. Dies bedeutet, dass nur Probanden mit hohem Arbeitsgedächtnis von einer schnellen Regelung der Verstärkung profitieren, die verhindert, dass leise Wörter "verschluckt" werden.
Bei HINT-Sätzen fehlten die positiven Effekte kurzer Zeitkonstanten bei den Patienten mit hohem Arbeitsgedächtnis – bei sonst analogen Gruppenunterschieden. Dies bedeutet, dass aufgrund der hohen Redundanz der Sätze beide Probandengruppen nicht auf die zusätzlichen Sprachinformationen angewiesen waren, die durch kurze Zeitkonstanten zur Verfügung gestellt wurden: "verschluckte" Wörter konnte man einfach aus dem Zusammenhang "erraten".
Nur Probanden mit hohem Arbeitsgedächtnis konnten die Vorteile kurzer Zeitkonstanten, die alle Sprachinformationen übertragen kann, ausnutzen. Dies schlug sich aber nur bei Sätzen mit geringer Redundanz nieder und auch nur bei moduliertem Rauschen, das der Situation mit im Hintergrund redenden Menschen entspricht. Bei kontinuierlichem Rauschen, z.B. wie bei einem Zwiegespräch bei einer Autofahrt, war der Vorteil nicht vorhanden. Bei hoher Redundanz konnte man auch bei niedrigem Arbeitsgedächtnis fehlende Sprachinformation erraten, beispielsweise bei Redewendungen und Floskeln. Auch wenn es noch wie Zukunftsmusik klingt: Ärzte sollten auf Hörgeräteverordnungen nicht nur Hörverlustkurven und Sprachverstehenswerte mitteilen, sondern auch die Quantität des (auditiven) Arbeitsgedächtnisses, damit Hörgeräteakustiker eine am besten geeignete Dynamik einstellen können, speziell für Gespräche mit geringer Redundanz des Gesagten sowie für Situationen mit Hintergrundgesprächen.
Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler, Lübeck