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DOI: 10.1055/s-0032-1305027
Gibt es einen Set point für das Körpergewicht?
Publication History
Publication Date:
01 June 2012 (online)
Die biologische Regulation des Körpergewichts ist ein klassisches Thema der Ernährungswissenschaft. Angesichts der Fortschritte in der molekular- und zellbiologischen Forschung ist es auch in den letzten 20 Jahren intensiv diskutiert worden. Das Konzept eines Set points beinhaltet eine strenge genetische und hormonelle Kontrolle des Körpergewichtes. Dabei soll ein proportional arbeitendes Feedbacksystem das Körpergewicht gemäß einem „intern“ festgelegten Körpergewicht regulieren: Dieses System adjustiert die Nahrungsaufnahme und/oder den Stoffwechsel proportional zu dem Unterschied zwischen dem aktuellen Körpergewicht und dem als Set point festgelegten Wert ([Abb. 1]).
Evidenz für diese Idee erwächst aus kontrollierten Fütterungsversuchen bei Nagetieren, welche sowohl bei kontrollierter Über- als auch bei Unterernährung vorübergehende Veränderungen des Körpergewichts zeigen, die aber nach Umstellung auf spontane Ernährung rückläufig sind; die Tiere erreichen innerhalb kürzerer Zeiträume das ihrer normalen Entwicklung entsprechende Körpergewicht. Diese grundlegenden Erkenntnisse zum Set point wurden durch die molekular- und zellbiologische Forschung der zurückliegenden 20 Jahre differenziert: Wir stellen uns heute vor, dass verschiedene „periphere“ Signale, welche z. B. im Gastrointestinaltrakt, im Fettgewebe oder im Stoffwechsel entstehen, das Gehirn, d. h. direkt Kernareale im Hypothalamus, über Nahrungsaufnahme, Nährstoffe, Verdauung, Transport, Energiespeicher oder Stoffwechsellage „informieren“ und bei Abweichungen zwischen „Ist-“ und „Soll-Wert“ (d. h. zwischen Zufuhr und Bedarf) die Nahrungsaufnahme und/oder den Stoffwechsel von Makronährstoffen im Sinne der Homöostase angemessen gegensteuern. Die Energiebilanz wird offensichtlich sehr genau reguliert, pro Mahlzeit betragen die Abweichungen beim Menschen nur 5 kJ oder etwa 1 kcal.
Unter Wissenschaftlern erfreut sich zurzeit die sog. „Lipostatische Theorie“ einer hohen Beliebtheit. Sie besagt, dass die Regulation des Körpergewichts in Abhängigkeit von der Größe der Fettspeicher erfolgt. Im Fettgewebe werden „Signale“ gebildet und als Adipokine sezerniert (ein Beispiel ist das Peptidhormon Leptin), welche an Neuronen im Hypothalamus (dem Zentrum der Steuerung von Appetit- und Hunger) binden und dort orexigene (d. h. appetitsteigernde und Hungergefühl unterdrückende) und anorexigene (Hunger steigernde und Appetit unterdrückende) Signale generieren. Diese Signale werden in höheren kortikalen Zentren des Gehirns verarbeitet und dann im Sinne einer Anpassung von Appetit, Sättigung und Stoffwechsel „beantwortet“. „Schlüsselsignale“ des Hungers sind das Neuropeptid Y sowie Peptide wie das Melanokortin oder melanozytenstimulierende Hormon, MSH, welche aus der Spaltung von Proopiomelanokortin entstehen. Sie regulieren Sättigung und Appetit. Große Fettspeicher bedeuten hohe Leptinspiegel in Plasma und Liquor cerebrospinalis, welche eine entsprechende Gegenregulation, d. h. weniger Appetit, höhere Thermogenese bewirken. Vice versa sind die Leptinspiegel nach Gewichtsabnahme und bei Untergewicht erniedrigt, was wiederum einen höheren Appetit und eine Drosselung der Thermogenese zur Folge hat.
Alternative Modelle nehmen an, dass die Nahrungsaufnahme durch den Plasmaspiegel bzw. den Stoffwechsel von Glukose oder auch von Aminosäuren reguliert wird. Glukose ist für das Gehirn essenziell, es bedarf deshalb einer gut regulierten Bereitstellung durch die Nahrungsaufnahme und den Stoffwechsel der Leber. Aminosäuren sind Vorstufen von Neurotransmittern, welche Hunger und Sättigung steuern. Der Einfluss von Glukose und Aminosäuren betrifft auch höhere Zentren im Gehirn, z. B. den Mandelkern im medialen Teil des Temporallappens (Amygdala). Die verschiedenen Modelle können eine kurzfristige (innerhalb von Minuten oder Stunden) und eine längerfristige (über Tage, Wochen und Monate) Regulation des Körpergewichts erklären.
Die Übertragbarkeit dieser auf Tierexperimenten beruhenden Konzepte auf den Menschen ist bisher nicht eindeutig gesichert. Kontrollierte Ernährungsversuche am Menschen zeigen, dass bei kontrollierter Überernährung das Körpergewicht ansteigt, dieses aber bei Rückkehr zu einer spontanen Nahrungsaufnahme nicht automatisch auf den ursprünglichen Wert zurückgeht. Erst eine kontrollierte Unterernährung bewirkt das Wiedererreichen des Ausgangsgewichts. Auch nach kontrollierter Unterernährung und anschließender spontaner Ernährung (sog. Re-feeding) ist die Regulation nicht genau. Das ursprüngliche Körpergewicht wird häufig überschritten; zum Ende des Gewichtszyklus wird ein im Vergleich zum Beginn höheres Körpergewicht und eine höhere Fettmasse erreicht (sog. Catch-up-fat-Phänomen). Diese Befunde entsprechen nicht der Theorie des Set points.
Die Ergebnisse der Humanstudien sprechen eher für das Vorhandensein eines sog. Settling points, welcher einer passiven Adaptation an die jeweilige Energieaufnahme ohne eine wesentliche biologische oder auch genetische Regulation entspricht ([Abb. 1]). Bei Überernährung wird der Gewichtsverlauf bzw. das Wiedererreichen eines neuen Gleichgewichts bei einem am Ende höheren Körpergewicht (= Settling point) durch den mit der Gewichtszunahme und der Zunahme der fettfreien Masse erhöhten Energieverbrauch erklärt; dieser entspricht am Ende der zu Beginn höheren Energieaufnahme, die Energiebilanz ist am Settling point ausgeglichen. Vice versa kommt es bei Unterernährung zu einer Abnahme sowohl des Körpergewichts als auch der fettfreien Masse und somit des Energieverbrauchs: Ein neuer und gewichtsstabiler Gleichgewichtszustand (Settling point) wird dann bei einem niedrigeren Körpergewicht und einem der Energieaufnahme entsprechenden Energieverbrauch erreicht.
Diese Vorstellungen entsprechen den Ergebnissen der vor mehr als 60 Jahren in Minneapolis durchgeführten Minnesota Human Starvation Study. Diese bestimmt auch heute noch unser Denken zu der in Rede stehenden Frage. Sie ist auch Grundlage für mathematische Modellbildungen, welche z. B. Gewichtsverläufe unter Diäten oder bei konsumierenden Erkrankungen vorhersagen. Erst in den letzten Jahren hat es neue Untersuchungen mit moderneren und zeitgemäßen Methoden gegeben, welche eine differenziertere Vorstellung im Hinblick auf die Regulation des Körpergewichts am Menschen ermöglicht haben.
Die bei Unter- und Überernährung beobachteten Gewichtsveränderungen entsprechen den während verschiedener Phasen unterschiedlich erklärten Substrat- und Wasserbilanzen. In den ersten Tagen von Über- oder Unterernährung wird das Körpergewicht wesentlich durch Veränderungen der Glykogen-, Eiweiß- und Wasserbilanzen erklärt; die längerfristigen Veränderungen des Körpergewichts entsprechen den Unterschieden in der Fettbilanz. Die „Qualität“ und die Energieäquivalente des zugenommenen bzw. verlorenen Gewichtes sind entsprechend unterschiedlich. Die Regulation des Körpergewichts und ein Set point müssen entsprechend dahingehend differenziert werden, inwieweit (i) fettfreie Masse (enthält Glykogen, Eiweiß und Wasser) und/oder (ii) Fettmasse (iii) und/oder das Verhältnis von Fettmasse zu fettfreier Masse verändert und reguliert werden. Davon abzugrenzen wären noch die Regelkreise des Mineral- und Knochenstoffwechsels sowie des Wasserhaushalts.
Eine derart differenzierte Vorstellung einer biologischen Regulation einzelner Körperkompartimente würde neben der „Lipostatischen Theorie“, welche die Regulation der Fettmasse betrifft, zahlreiche andere Regelkreise berücksichtigen. Dabei kommen dann andere Kandidaten wie z. B. Geschlechtshormone, Mineralokortikoide, Zytokine, Wachstums- und Stressfaktoren aber auch Faktoren, welche den Cross talk zwischen Fettmasse und fettfreier Masse bestimmen, in die Diskussion. Im Vergleich der genannten Faktoren haben wir bisher beim Menschen am meisten Kenntnis über die „Lipostatische Theorie“ gewonnen.
Die Plasmaspiegel des Hormons Leptin sind eng zur Fettmasse korreliert, sie sind bei geringer Fettmasse (z. B. bei untergewichtigen Patientinnen mit einer Anorexia nervosa) deutlich erniedrigt und vice versa bei übergewichtigen und besonders adipösen Patienten deutlich erhöht. Dabei verändert sich das Verhältnis zwischen Leptinspiegel und Fettmasse mit den Veränderungen des Körpergewichts. Nehmen untergewichtige Frauen Gewicht zu, ist die Sekretion von Leptin pro Fettzelle und somit das Verhältnis von Leptin zur Fettmasse erhöht. Nehmen übergewichtige Patientinnen an Gewicht ab, so sinkt deren Leptinsekretion.
Die Leptinspiegel im Blut und Liquor cerebrospinalis werden nun zu den „Efferenzen“ des Regelkreises in Beziehung gesetzt. Teleologisch scheint das Leptinsignal dem Erhalt bzw. Wiedererreichen eines normalen Körpergewichts bzw. einer normalen Fettmasse zu dienen. Die klinischen Erfahrungen bei übergewichtigen Patienten wecken Zweifel an dieser Theorie: Adipöse haben hohe Leptinspiegel bei gleichzeitig gutem Appetit und einem bezogen auf ihre fettfreie Masse nicht erhöhten Energieverbrauch. Die Diskrepanz zwischen Signal und Wirkung wird mit einer Resistenz gegenüber Leptin in den Neuronen des Hypothalamus erklärt. Eine alternative Erklärung geht von asymmetrischer Kontrolle der Energiebilanz aus: Leptin ist ein Hungerhormon, welches nur bei niedrigen Konzentrationen zu der Anpassung in Energieaufnahme und Energieverbrauch assoziiert ist. In der Tat finden sich nur bei Untergewicht und im niedrigen Konzentrationsbereich Beziehungen zwischen Leptin und dem Energieverbrauch; bei normal- und übergewichtigen Menschen zeigt die Konzentration von Leptin im Plasma keine Beziehung zum Energieverbrauch.
Aus diesen Ergebnissen ergibt sich ein differenziertes Konzept für die Regulation des Körpergewichts. Unter der Annahme einer asymmetrischen Kontrolle ist eine Steuerung im Sinne eines Set points nur bei Untergewicht „wirksam“. Demgegenüber hat der Mensch bei Überernährung und Übergewicht keinen biologischen „Schutz“, der Gewichtsverlauf entspricht der Energiebilanz, ein „neues“ Körpergewicht wird nach Erreichen des sog. Settling points offensichtlich.
Heute erscheint eine allein auf die Fettmasse bezogene Regulation des Körpergewichts unwahrscheinlich. Zur „Lipostatischen Theorie“ alternative Vorstellungen setzen das Verhältnis von Fettmasse und fettfreier Masse in das Zentrum von Gewichtsregulation. Dabei sind Fettmasse und fettfreie Masse durchaus unterschiedlich zu den längerfristigen Veränderungen des Körpergewichts assoziiert: Die Veränderungen der Fettmasse sind im Vergleich zur fettfreien Masse größer. Bei Gewichtsabnahme ist der Verlust der fettfreien Masse abhängig von der Fettmasse: Ist diese hoch, wird wenig fettfreie Masse verloren. Dagegen wird bei geringer Fettmasse durch Gewichtsverlust relativ mehr fettfreie Masse abgenommen. Dies deutet darauf hin, dass die verschiedenen Kompartimente des Körpers nicht unabhängig voneinander reguliert werden. Zukünftig müssen also neben den direkten Einflussfaktoren des Ernährungszustands die Zusammensetzung des Körpers sowie die Funktionalität der einzelnen Kompartimente des Körpers in größere regulatorische Systeme integriert werden, um Regelkreise des Körpergewichts und so auch das Konzept eines möglichen Set points zu charakterisieren.
Grundsätzlich sind aber auch die Zielgrößen der Regulation zu hinterfragen. Neben der Regulation eines stabilen Körpergewichts (dies entspricht der ursprünglichen Set-point-Theorie) wäre eine Regulation in einem bestimmten Gewichtsbereich (mit Ober- und Untergrenzen) oder aber eine feste Beziehung zwischen einzelnen Körperkompartimenten (z. B. der Fettmasse und der fettfreien Masse) oder die Dynamik einer in Abhängigkeit von dem jeweiligen Ernährungsregime zu beobachtenden Veränderung von Körpergewicht und Körperzusammensetzung möglich. Dabei ist die zeitliche Dimension von Regulation zu bedenken. Diese kann im Verlauf eines Tages innerhalb von Sekunden, Minuten und Stunden (z. B. nach einer Mahlzeit oder nach körperlicher Belastung) erfolgen. Sie kann aber auch einen Zeitraum von mehreren Tagen (z. B. Gewichtszunahme über das Wochenende mit anschließender Abnahme in den ersten Wochentagen) oder aber über Monate (wie z. B. in der kontrollierten Ernährungsstudie in Minneapolis) oder aber über Jahre oder vielleicht lebenslang erklärt werden. Es ist anzunehmen, dass die in den verschiedenen Zeiträumen zu beobachtenden Veränderungen des Körpergewichts biologisch ganz unterschiedlich erklärt und mithin unterschiedlichen Konzepten eines set points entspricht.
Zusammenfassend erscheint heute das Konzept des Set points attraktiv, es ist jedoch stark vereinfachend und bedarf der Berücksichtigung von Körperkompartimenten, deren Funktionen und entsprechender mathematischer Modelle. Beim Menschen sprechen unsere bisherigen Erkenntnisse für eine asymmetrische Kontrolle des Körpergewichts: Bei Unterernährung ist eine aktive biologische Regulation wahrscheinlich; bei Überernährung erklärt die passive metabolische Anpassung an die Kalorien- und Substratzufuhr die Veränderungen des Körpergewichts im Sinne eines Settling points. Die Idee eines Set points kann Veränderungen des Körpergewichts deshalb nur anteilig erklären. Auch sind die bisherigen Konzepte von biologischer Regulation eng gefasst. Neben der biologischen Kontrolle unterliegt unser Essverhalten auch kognitiven und hedonistischen Einflüssen, welche andere als die genannten und bisher favorisierten Regelsysteme betreffen. All dies bedeutet auch, dass unsere bisherigen Vorstellungen zur Genetik des Körpergewichts vereinfachend sind, die aktuellen Erkenntnisse von Genomforschung sind auch deshalb wenig erklärend. Dies ist Auftrag für die Entwicklung zunehmend differenzierter Modelle in der zukünftigen Forschung zur Regulation des Körpergewichts.
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Weiterführende Literatur
- 1 Hall KD, Sacks G, Chandramohan D et al. Quantification of the effect of energy imbalance on body weight. Lancet 2011; 378: 826-837
- 2 Heymsfield SB, Thomas D, Martin CK et al. Energy content of weight loss: kinetic features during voluntary caloric restriction. Metabolism 2012; Jan 16 [Epub ahead of print]
- 3 Keys A, Brozek J, Henschel A, Mickelsen O, Taylor HL. The Biology of Human Starvation. Minneapolis: The University of Minnesota Press; 1950
- 4 Müller MJ, Bosy-Westphal A, Heymsfield SB. Is there evidence for a set point that regulates human body weight?. F1000 Med Rep 2010; 2: 59
- 5 Müller MJ, Bosy-Westphal A, Lagerpusch M et al. Use of balance methods for assessment of short-term changes in body composition. OBESITY 2011; doi: DOI: 10.1038/oby2011.269.
- 6 Speakman JR, Levitsky DA, Allison DB et al. Set points, settling points and some alternative models: theoretical options to understand how genes and environments combine to regulate body adiposity. Disease Models & Metabolism 2011; 4: 733-745