Zusammenfassung
Eine Flucht und die damit zusammenhängenden Prozesse der Migration sind für eine Familie potenziell eine äußerst belastende Erfahrung. Diese kann mit einer Umkehr in der Familienhierarchie einhergehen: Kinder übernehmen emotionale oder instrumentelle Aufgaben für ihre Eltern, die eigentlich eine erwachsene Person für das Kind ausführen sollte. Dieses Phänomen wird als Parentifizierung oder Rollentausch bezeichnet. Die Forschung zu Parentifizierung hat den Auswir-kungen der Belastungen, denen das Familiensystem geflüchteter Familien ausgesetzt ist, wenig Aufmerksamkeit zukommen lassen. Aus Studien ist bekannt, dass Parentifizierung im Zusammenhang mit Migration häufiger auftritt, jedoch ist fraglich, inwiefern solche Ergebnisse auf die Erfahrung einer erzwungenen Migration übertragbar sind. Ba-sierend auf einem Überblick des Forschungs-standes und einem integrativen theoretischen Rahmens nach Jurkovic wird in diesem Artikel erörtert, ob geflüchtete Familien auf-grund einer Anhäufung von Risikofaktoren eine besonders vulnerable Gruppe für Parentifizierung darstellen. Dabei werden einzelne Prädiktoren für Parentifizierung im Kontext von Migration und Flucht im Rahmen einer systematischen Literaturanalyse betrachtet. Es wird deutlich, dass Risikofaktoren bei geflüchteten Familien nicht nur grundsätzlich zu großer Belastung akkumulieren, sondern dass kumulative Effekte der Wechselwirkungen zwischen den Faktoren das Familiensystem zusätzlich unter Druck setzen. Aus diesem Grund bedürfen Familien mit Fluchtgeschichte unter Berücksichtigung ihrer Autonomie und Selbstwirksamkeit besonderer Unterstützung auf institutioneller, struktureller und individueller Ebene, um eine überfordernde Verantwortungsübername der Kinder und Jugendlichen zu verhindern.
Summary
Asylum seeking and the related processes of migration have the potential to be a stressful experience for families. This experience might result in a reversal within the family hierarchy, where children assume emotional or instrumental tasks on behalf of their parents as the adults are unable to perform the tasks themselves. This phenomenon is defined as parentification or role reversal. Parentification research has not analysed the consequences that result from the burden that refugee families bear. Although previous research on parentification suggests that this phenomenon occurs more frequently in families with a migration background, it is unclear whether such results can be transferred to the forced migration experience. This article considers the question of whether refugee families represent a high-risk group for parentification due to an accumulation of predicting factors, based on a review of the current literature and using Jurkovic’s integrative theoretical framework. This paper will examine specific predictors within the framework from a systematic review of literature. It is clear that in the context of refugee families, risk factors for parentification not only accumulate to become a high burden, but that cumulative effects caused by the interaction between the different factors add additional pressure on the family system. These results lead to the conclusion that refugee families require special support at an institutional, structural, and individual level – taking into account their autonomy and self-efficacy – in order to prevent an overwhelming level of care taking done by the children and adolescents in these families.
Schlüsselwörter
Parentifizierung - Rollentausch - Flucht - Migration
Keywords
Parentification - role reversal - asylum seeking - migration