Psychotraumatologie 2001; 2(1): 3
DOI: 10.1055/s-2001-11987
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Massenmord: Der Fall des Friedrich Haarmann

Überlegungen zum Verhältnis von Perversion und JustizReflections on the Relation between Perversion and Criminal Justice.Mass Murder: The Case of Friedrich Haarmann.Hans-Joachim Behrendt
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

 

Zusammenfassung

Die Arbeit geht unterschwelligen Verbindungen zwischen den Erscheinungsformen der Perversion und den Theorie- und Praxisgestalten strafrechtlicher Reaktion nach. Es wird gezeigt, dass in beiden Phänomenbereichen frühkindliche Traumatisierungen und ihre Konsequenzen für die psychische Strukturbildung entscheidende Bedeutung besitzen.

Unter Heranziehung moderner Theorien der Perversionsentstehung wird zunächst die Lebens- und Kriminalitätsgeschichte des Friedrich Haarmann, eines Mörders aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nachgezeichnet. Unter den Theorien zur Perversionsentstehung werden neben manchen anderen insbesondere Konzepte Masud Khans, etwa hinsichtlich der Rolle des „idolisierten inneren Objekts” und der Phantasie vom „montierten inneren Objekt”, berücksichtigt. Alle Erklärungsansätze werden durch knappe Ausschnitte aus Fallberichten verdeutlicht. Anschließend wird die Reaktion der damaligen Justiz einschließlich der seinerzeitigen forensischen Psychiatrie geschildert und die hypothetische Frage nach der heutigen Behandlung des Falles erörtert. Die unbewusste, auch heute noch zu beobachtende Kollusion zwischen dem perversen Kriminellen und der Strafjustiz verweist auf weitgehende Analogien der seelischen Strukturbildung beider.

Abstract

The article examines subliminal connections between the phenomena of perversion and the theoretical und practical aspects of personality in the sphere of criminal justice. It is shown that in both areas traumatisations in early childhood and their consequences exercise profound influence on the formation of psychic structure. Citing modern theories of perversion-formation, the biography and the criminal career of Friedrich Haarmann, a murderer in the first half of the 20th century, is reconstructed. Among the theories on the formation of perversion especially the concepts of Masud Khan are considered, for instance those on the role of the „idolized internal object” and the fantasy of the „collated internal object”. All theoretical approaches are illustrated by short extracts from case studies. Subsequently the reaction of the judicial system at that time is reported, including forensic psychiatry, and the hypothetical question is discussed how the case would be treated today. The still persisting unconscious collusion between the perverse criminal and the judicial system refers to far reaching analogies concerning the formation of psychic structure.

1 Der im folgenden mitgeteilte Lebenslauf stützt sich im wesentlichen auf die Angaben bei Lessing T. Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs und andere Gerichtsreportagen. München: DTV, 2. Aufl., 1996: 29-215, und bei Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995: 55-119 (Fritz Haarmann - Eine Krankengeschichte. Aus in der Krankenakte der Göttinger Heil- und Pflegeanstalt befindlichen Abschriften), 205 - 461 (Gespräche in Göttingen), 463 - 477 (Ernst Schultze - Ärztliches Gutachten) und 479 - 561 (Das Urteil gegen Fritz Haarmann [Dezember 1924])

2 Mitgeteilt bei Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 80

3 Vgl. hierzu die Mitteilung bei Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 86, 87

4 Abgedruckt bei Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 506

5 Professor Dr. Ernst Schultze, Leiter der Provinzial - Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen und Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Georgs-August-Universität, Gerichtsmedizinalrat Dr. Alex Schackwitz und Gerichtsmedizinalrat Brandt. Das schriftliche Gutachten Schultzes sowie das Protokoll seiner Gespräche mit Haarmann liegen vollständig vor (vgl. die Angaben bei Anm. 1). Schackwitz schloß sich dem in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Gutachten Schultzes in allen Punkten an. Über ein Tätigwerden des dritten Gutachters wird nichts berichtet.

6 Ein guter Überblick über den Aufbau der frühen Welt des Säuglings mit weiterführenden Literaturhinweisen findet sich bei Müller-Pozzi H. Psychoanalytisches Denken. Bern/Göttingen/Toronto/Seattle: Huber, 2. Aufl., 1995: 123-145

7 Zum Begriff des Übergangsobjekts vgl. Winnicott DW. Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Fischer, 1983: 300-319

8 Winnicott DW. Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse (wie Anm. 7): 70, 71

9 So treffen in Joseph Conrads Roman Herz der Finsternis menschliches Sinnbedürfnis und eine sinnabweisende ursprüngliche Natur unversöhnlich aufeinander. Man vgl. hierzu die sensiblen Ausführungen von Johann Hinrich Claussen: Flussreise in den Alptraum. Bilder und Zeiten. Beilage zur FAZ vom 22.1.2000: 1,2

10 Winnicott DW. Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse (wie Anm. 7): 267-299, insbesondere 280, spricht hier vom „Stadium der Besorgnis”. Klein M. Gefühlsleben und Ich-Entwicklung des Säuglings unter besonderer Berücksichtigung der depressiven Position. In: Dieselbe: Gesammelte Schriften, Bd.1 Teil 2. Stuttgart: Fromann-Holzboog, 1996: 267-330, insbes. 288-292, nennt diese Entwicklungsstufe die depressive Position.

11 Zum Zeitpunkt des Auftretens der frühen Störung bei der strukturellen Perversion vgl. Kutter P, Müller T. Psychoanalyse der Psychosen und Persönlichkeitsstörungen. In: Hinz H (Hg.): Wolfgang Loch. Die Krankheitslehre der Psychoanalyse. Stuttgart/Leipzig: Hirzel, 6. Aufl., 1999: 3, 1-287, insbes. 263-268

11 Zu dem hier verwendeten Schema von Traumatisierung, Bewältigungsversuch und anschließenden Entwicklungsbrüchen vgl. das Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung mit den ausdifferenzierten Momenten der traumatischen Situation, der traumatischen Reaktion und des traumatischen Prozesses bei Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. München/Basel: Reinhardt, 1998: 58-119

12 Winnicott DW. Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse (wie Anm. 7): 72, 73, bezeichnet diese Art der Objektbeziehung als „primitive Erbarmungslosigkeit”. Klein M. Gefühlsleben und Ich-Entwicklung (wie Anm. 10): 315 - 317, spricht von einer paranoid-schizoiden Position, bei der die frühen destruktiven Impulse nicht integriert werden und sich in verfolgender Form gegen den Säugling selbst wenden. Normalerweise wird jedoch diese frühe Destruktivität von der genügend guten Mutter aufgefangen und ausgeglichen. Zur Bedeutung und Reichweite der schizoiden Position vgl. auch Fairbairn WRD. Schizoid Factors in the Personality. In: Psychoanalytic Studies of the Personality. London/New York: Routledge, 1999: 3-27; ferner Guntrip H. The Manic-Depressive Problem in the Light of the Schizoid Process. In: Derselbe: Schizoid Phenomena, Object Relations and the Self. London: The Hogarth Press, 6. Aufl., 1986: 130-164

13 Winnicott DW. Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse (wie Anm. 7): 75

14 So bei Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989: 11-13

15 Diese Mitteilung findet sich bei Lessing T. Haarmann (wie Anm. 1): 61

16 Berichtet von McDougall J. Theater der Seele. Illusion und Wahrheit auf der Bühne der Psychoanalyse. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse, 2. Aufl., 1994: 284, 285. McDougall schreibt in diesem Zusammenhang ferner, die Bilder, die perverse Patienten von ihren Eltern entwerfen, seien einander so ähnlich, dass man glauben könnte, die Patienten seien alle Mitglieder ein- und derselben Familie.

17 Zu diesen Bildern vgl. die Ausführungen von Shengold L. The effects of overstimulation: rat people. The International Journal of Psychoanalysis 1967; 48: 403-414, hier 403. Die Verwendung dieser Imagines findet sich allenthalben in Geschichte und Literatur. Theodor Lessing gibt seinem Bericht über Haarmann bekanntlich den Untertitel: Die Geschichte eines Werwolfs (vgl. hierzu Anm. 1). Auch Hitlers Vorliebe für alles „Wölfische” (Wolfsschanze etc.) soll als Merkmal einer Perversion zumindest erwähnt werden.

18 Zur Bedeutung und Funktion der Sexualisierung in der Perversion siehe Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 11-18; Kutter P, Müller T. Psychoanalyse der Psychosen und Persönlichkeitsstörungen (wie Anm. 11): 261 - 268; McDougall J. Theater der Seele (wie Anm. 16): 263 - 283

19 Lessing T. Haarmann (wie Anm. 1): 87, 88, berichtet zum Verhältnis von Haarmann zu Grans, seinem Freund, folgende im behandelten Zusammenhang aufschlussreiche Einzelheit: „Haarmann liebte den Grans und das wußte dieser zu nutzen. Wenn der Alte tobte, so pflegte der Junge ihn um die Hüfte zu nehmen und seine Zunge ihm in den Mund zu stecken; dies erregte den Haarmann so, daß er wachsweich und dem hübschen Jungen zu willen wurde.”

20 Der Traum wird berichtet von Etchegoyen RH. The Fundamentals of Psychoanalytic Technique. Revised Edition.London: Karnac 1999: 190

21 Joseph B. Ein klinischer Beitrag über die Analyse einer Perversion. In: Dieselbe: Psychisches Gleichgewicht und psychische Veränderung. Stuttgart: Klett-Cotta, 1994: 81-104, hier: 100

22 Im gleichen Sinne etwa Chasseguet-Smirgel J. Der Perverse und das Ichideal. In: Dieselbe: Anatomie der menschlichen Perversion. Stuttgart: DVA, 1989: 53-69; Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 59; McDougall J. Theater der Seele (wie Anm. 16): 284 - 301. Schon Freud schrieb: „Es ist lehrreich, daß das Kind unter dem Einfluß der Verführung polymorph pervers werden, zu allen möglichen Überschreitungen verleitet werden kann.” Siehe Freud S. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Derselbe: Gesammelte Werke, 5. Bd. Frankfurt/M.: Fischer, 4. Aufl., 1968: 27-145, hier: 91

23 Zitiert nach Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 29

24 Vgl. hierzu die Angaben bei Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 105. Hinweise auch bei Kestenberg J. On the development of maternal feelings in early childhood. The Psychoanalytic Study of the Child 1956; 11: 257-291

25 Zur Entwicklung des Körperbildes bei der Perversion vgl. Greenacre P. Certain relationships between fetishism and faulty development of the body image. The Psychoanalytic Study of the Child 1953; 8: 79-97

26 Man vgl. nur die von Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 170-196 und 197-252 mitgeteilten Fallgeschichten. Das von Khan hier entwickelte und in seiner Anwendung demonstrierte Konzept des „montierten inneren Objekts” umfaßt als seinen wesentlichen Bestandteil das Introjekt eines mütterlichen Phallus. Bak RC. The phallic woman. The ubiquitous fantasy in perversions. The Psychoanalytic Study of the Child 1968; 23: 15-36, scheint das Bild der phallischen Frau dagegen für eine einseitig-halluzinatorische Produktion des Säuglings zu halten.

27 Kutter P, Müller T. Psychoanalyse der Psychosen und Persönlichkeitsstörungen (wie Anm. 11): 263, 265, sprechen hier wie andere Autoren auch von der „archaischen Matrix des Ödipus-Komplexes”. Vgl. ferner Vogt R. Zur „archaischen Matrix des Ödipus-Komplexes”. Psyche 1990; 44: 915-952

28 Diese Bezeichnung findet sich bei Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 28

29 Der Bericht findet sich bei Shengold L. The effects of overstimulation: rat people (wie Anm. 17): 408

30 Lessing T. Haarmann (wie Anm. 1): 59

31 Morgenthaler F. Die Stellung der Perversionen in Metapsychologie und Technik. Psyche 1974; 28: 1077-1098, bezeichnet die Perversion als eine Art ‚Plombe‘, die die Lücke des in der narzißtischen Entwicklung gestörten Selbst füllen soll.

32 So meint er im Gespräch mit dem Psychiater Schultze: „Ich sagte dann immer, wenn so was passiert war, ich muß doch ein Mensch mit zwei Seelen sein, wenn ich so was tue, ich bin doch sonst gut.” Zitiert nach Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 323

32 Zu den Problemen, die die vertikale Spaltung für die psychoanalytische Theorie und Therapie aufwirft, vgl. Goldberg AJ. Perversion aus der Sicht psychoanalytischer Selbstpsychologie. Psyche 1998; 52: 709-739; ferner Guntrip H. The Manic-Depressive Problem (wie Anm. 12): 130-164, jeweils mit weiteren Nachweisen.

33 Dieser Begriff findet sich bei Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 9-36, insbes. 14 und 29-31

34 Zur Rolle von Hass und Feindseligkeit in der Perversion vgl. vor allem Stoller RJ. Perversion. Die erotische Form von Haß. Gießen: Psychosozial-Verlag,1998: 125-149

35 Vgl. zum Folgenden besonders Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 606-611

36 Zu Haarmanns Unfähigkeit zur Phantasie- und Symbolbildung vgl. Lessing T. Haarmann (wie Anm. 1): 60, 61

37 So bei Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 224

38 Siehe hierzu Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 267

39 Glasser M. From the analysis of a transvestite. The International Review of Psycho-Analysis 1979; 6: 163-173, hier 164

40 In diesem Sinne m.E. zutreffend Kutter P, Müller T. Psychoanalyse der Psychosen und Persönlichkeitsstörungen (wie Anm. 11): 263, 264

41 Zu diesem Begriff vgl. Chasseguet-Smirgel J. Das analsadistische Universum und die Perversion. In: Dieselbe: Anatomie der menschlichen Perversion. Stuttgart: DVA, 1989: 135-167

42 Joseph B. Ein klinischer Bericht über die Analyse einer Perversion (wie Anm. 21): 82

43 Das berichtet Lessing T. Haarmann(wie Anm. 1): 62, 63

44 Zur Gestalt der phallischen und der ödipalen Problematik bei Perversionen vgl. Bak RC. The phallic woman (wie Anm. 26): besonders 28-36; Becker N, Schorsch E. Die psychoanalytische Theorie sexueller Perversionen. In: Sigusch V (Hg.): Therapie sexueller Störungen. Stuttgart/New York: Thieme, 1980: 159-186, hier: 160-163, jeweils mit weiteren Nachweisen.

45 Lessing T. Haarmann (wie Anm. 1): 59, schildert den Eindruck, den Haarmann auf ihn macht: „Die Stimme, breiig, schleimig und nah am Diskant, erinnert an das Organ alter Frauen. Der ganze Habitus ist ‚androgyn‘. Man möchte sagen: nicht männlich, nicht weiblich, nicht kindlich. Aber männisch, weibisch und kindisch zugleich.”

46 Näher hierzu Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 9-18. Vgl. ferner McDougall J. Theater der Seele (wie Anm. 16): 284-305

47 Antwort im Rahmen eines persönlichen Gesprächs mit dem Verfasser.

48 Bei Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 215, 216

49 Man vgl. zur letztgenannten Phantasie den Fallbericht bei Greenacre P. Certain relationships (wie Anm.25): 86-90

50 Zur Rolle des Agierens bei der Perversion Khan MMR. Entfremdung bei Perversionen (wie Anm. 14): 33-37, mit weiteren Nachweisen.

51 Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 241

52 Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 260

53 Lessing T. Haarmann (wie Anm. 1): 178

Autor:

Prof. Dr. iur. Hans - Joachim Behrendt

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