Psychotraumatologie 2001; 2(2): 14
DOI: 10.1055/s-2001-15745
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Massenmord: Der Fall des Friedrich Haarmann, Teil II

Überlegungen zum Verhältnis von Perversion und JustizHans - Joachim Behrendt
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Publication Date:
15 August 2001 (online)

 

Zusammenfassung

Die Arbeit geht unterschwelligen Verbindungen zwischen den Erscheinungsformen der Perversion und den Theorie- und Praxisgestalten strafrechtlicher Reaktion nach. Es wird gezeigt, dass in beiden Phänomenbereichen frühkindliche Traumatisierungen und ihre Konsequenzen für die psychische Strukturbildung entscheidende Bedeutung besitzen.

Unter Heranziehung moderner Theorien der Perversionsentstehung wird zunächst die Lebens- und Kriminalitätsgeschichte des Friedrich Haarmann, eines Mörders aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nachgezeichnet. Unter den Theorien zur Perversionsentstehung werden neben manchen anderen insbesondere Konzepte Masud Khans, etwa hinsichtlich der Rolle des „idolisierten inneren Objekts” und der Phantasie vom „montierten inneren Objekt”, berücksichtigt. Alle Erklärungsansätze werden durch knappe Ausschnitte aus Fallberichten verdeutlicht. Anschließend wird die Reaktion der damaligen Justiz einschließlich der seinerzeitigen forensischen Psychiatrie geschildert und die hypothetische Frage nach der heutigen Behandlung des Falles erörtert. Die unbewusste, auch heute noch zu beobachtende Kollusion zwischen dem perversen Kriminellen und der Strafjustiz verweist auf weitgehende Analogien der seelischen Strukturbildung beider.

Mass Murder: The Case of Friedrich Haarmann, Part II.
Reflections on the Relation between Perversion and Criminal Justice.

The article examines subliminal connections between the phenomena of perversion and the theoretical und practical aspects of personality in the sphere of criminal justice. It is shown that in both areas traumatisations in early childhood and their consequences exercise profound influence on the formation of psychic structure. Citing modern theories of perversion-formation, the biography and the criminal career of Friedrich Haarmann, a murderer in the first half of the 20th century, is reconstructed. Among the theories on the formation of perversion especially the concepts of Masud Khan are considered, for instance those on the role of the „idolized internal object” and the fantasy of the „collated internal object”. All theoretical approaches are illustrated by short extracts from case studies. Subsequently the reaction of the judicial system at that time is reported, including forensic psychiatry, and the hypothetical question is discussed how the case would be treated today. The still persisting unconscious collusion between the perverse criminal and the judicial system refers to far reaching analogies concerning the formation of psychic structure.

54 Frank R. Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetz. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 16. Aufl., 1925: § 211 Nr. 2; ähnlich RGSt 42, 260-262, hier: 262

55 Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 552

56 So bei Frank R. Das Strafgesetzbuch (wie Anm. 54): § 51 Nr. II 1; Mayer M-E. Der Allgemeine Teil des Deutschen Strafrechts. Lehrbuch. Heidelberg: C. Winters, 2. Aufl., 1923: 208-211

57 Im gleichen Sinne auch Pozsár C. Psychiatrischer Kommentar zu den „Haarmann-Protokollen”. In: Pozsár C, Farin M (Hg.): Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 614. Auch im übrigen schließt sich unsere Darstellung dem Kommentar Pozsárs bei i.e.S. psychiatrischen Fragen an.

58 Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 514; vgl. auch ebenda 468, 469

59 Vgl. Frank R. Das Strafgesetzbuch (wie Anm. 54): § 51 Nr. 2; Mezger, E. Der Krankheitsbegriff in § 51 StGB. ZStW 1912; 30: 159-174; RGSt 15, 97-100. A.A. Mayer M-E. Der Allgemeine Teil (wie Anm. 56): 208-211, ausdrücklich auch hinsichtlich „sexueller Perversitäten”.

60 So besonders Mezger E. Der Krankheitsbegriff (wie Anm. 59): 166-169

61 Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 514

62 Hierzu und zum Geist der zeitgenössischen Psychiatrie vgl. Pozsár C. Psychiatrischer Kommentar (wie Anm. 57): 568-570

63 Ebenso Pozsár C. Psychiatrischer Kommentar (wie Anm. 57): 631

64 Lessing T. Haarmann (wie Anm. 1): 175

65 Hierzu im einzelnen Pozsár C. Psychiatrischer Kommentar (wie Anm. 57): 630, 631

66 So auch Schorsch E. Die juristische Bewertung sexueller Tötungen. In: Jäger H, Schorsch E (Hg.): Sexualwissenschaft und Strafrecht. Stuttgart: Enke, 1987: 117-126, hier: 121, 122

66 Zu den verschiedenen juristischen Wegen, die Verwerflichkeit bei den Mordmerkmalen zu berücksichtigen, vgl. Lackner K. Strafgesetzbuch mit Erläuterungen. München: C.H. Beck, 22. Aufl., 1997: Vor § 211 Nr. 19

67 Zu einer solchen Fehleinschätzung vgl. die Entscheidungen der jeweiligen Vorinstanz in BGHSt JR 1990, 119 und BGHSt NStZ 1994, 75, 76

68 Näher hierzu Schorsch E. Die juristische Bewertung (wie Anm. 66): 121

69 So e.g. in BGHSt NStZ 1994, 75

70 Vgl. BGHSt JR 1990, 119 mit Anmerkung Blau; BGHSt NStZ 1993, 181; BGHSt NStZ 1994, 75, 76; BGHSt NStZ 1996, 77, 78

71 Vgl. Schönke A, Schröder H. Strafgesetzbuch. Kommentar. München: Beck, 25. Aufl., 1997: (Lenckner) § 20 Nr. 19-23; Wassermann R (Hg.). Reihe Alternativkommentare. Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1. Neuwied: Luchterhand, 1990: (Schild) §§ 20, 21 Nr. 98, jeweils mit weiteren Nachweisen.

72 So in BGHSt NStZ 1994, 75, 76

73 So in BGHSt NStZ 1993, 181

74 Zur Realität des Vollzugs der Maßregel vgl. Albrecht P-A. Aspekte des Maßregelvollzugs im psychiatrischen Krankenhaus. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1978; 61: 104-126, und Kammeier H. Maßregelvollzugsrecht. Kommentar. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1995: 120, 121

75 Man vgl. etwa Schorsch E, Galedary G, Haag A, Hauch M, Lohse H. Perversion als Straftat. Stuttgart: Enke, 2. Aufl., 1996. Vgl. ferner: Reiche R. Psychoanalytische Therapie sexueller Perversionen. In: Sigusch V (Hg.): Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2. Aufl., 1997: 241-265; Schorsch E. Therapie mit Sexualstraftätern. In: Jäger H, Schorsch E (Hg.): Sexualwissenschaft und Strafrecht. Stuttgart: Enke, 1987: 127-133; Schorsch E. Sexuelle Perversionen: Ideologie, Klinik, Kritik. In: Sigusch V (Hg.): Therapie sexueller Störungen. Stuttgart/New York: Thieme, 2. Aufl., 1980: 119-158

76 Vgl. e.g. Goudsmit W, Reicher JW. Sozialtherapie schwerstgestörter Delinquenten auf psychoanalytischer Grundlage. In: Sigusch V (Hg.): Therapie sexueller Störungen. Stuttgart/New York: Thieme, 2. Aufl., 1980: 247-265

77 Hierzu siehe Reicher JW. Die Entwicklungspsychopathie und die analytische Psychotherapie von Delinquenten. Psyche 1976; 30: 604-612; Rotthaus KP. Die neue Dr.-van-der-Hoeven-Kliniek in Utrecht. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1978; 61: 126-134; Warmerdam AA. Soziotherapeutische Basistherapie mit Delinquenten. Psyche 1976; 30: 589-598

78 Unzählige Male betont Haarmann, dass er geköpft werden will. Man vgl. etwa Pozsár C, Farin M (Hg.). Die Haarmann-Protokolle (wie Anm. 1): 351

79 Lessing T. Haarmann (wie Anm. 1): 77, 78, sagt dazu: „Die Wahrheit ist, dass das Treiben Haarmanns zwischen 1918 und 1924 gerade nur darum möglich war, weil er unter beständiger Polizeiaufsicht stand und weil von einem so allvertrauten, allgemein beliebten und täglich mit allen Polizeipersonen freundschaftlich verkehrenden Manne man zwar alle erdenklichen sittlichen Laster, ganz sicher aber nie einen tief verborgenen Mordwahnsinn vermutete.”

80 Gesprochen wird hier von der paranoid-schizoiden Position i.S. Melanie Kleins und verwandten Auffassungen; man vgl. hierzu die Ausführungen in Anm. 12.

81 Ein Versuch, die Dogmatik des Allgemeinen Teils des Strafrechts anhand tiefenpsychologischer Einsichten zu durchleuchten und umzuformulieren, findet sich bei Behrendt H-J. Die Unterlassung im Strafrecht. Entwurf eines negativen Handlungsbegriffs auf psychoanalytischer Grundlage. Baden-Baden: Nomos, 1979. Man vgl. ferner: Derselbe. Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht. In: Vogler T (Hg.). Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag. Berlin: Duncker und Humblot, 1985: 303-311

82 Im gleichen Sinne Schorsch E. Therapie mit Sexualstraftätern (wie Anm. 75): 129, 130

83 Zur Bedeutung von Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis für die wissenschaftliche Arbeit vgl. Behrendt H-J. Von der Befähigung zur Wissenschaft. In: Werner O, Häberle P, Kitagawa Z, Saenger I (Hg.). Brücken für die Rechtsvergleichung. Festschrift für Hans G. Leser. Tübingen: Mohr Siebeck, 1998: 84-102

84 Mit vollem Recht heißt es deshalb bei Fischer G, Riedesser P. Psychotraumatologie (wie Anm. 11): 60: "Das traumatisierte Individuum ist kein isoliertes Einzelwesen, sondern um einen zunächst paradox klingenden Begriff zu verwenden, ein "individuelles Allgemeines", d.h. die Besonderung jener allgemein menschlichen Möglichkeiten, sozialen Absprachen, Lebensprinzipien und Lebenswerte, an denen wir alle teilhaben, so dass ihre Verletzung letztlich uns alle als eine eigene Möglichkeit betrifft."

85 Der Verfasser hat im Wintersemester 1998/99 und im Sommersemester 1999 an einem vom Psychoanalytischen Seminar Freiburg veranstalteten Seminar zum Thema der Perversion mit großem Gewinn teilgenommen. Er dankt den beiden Seminarleiterinnen Frau Erika Kittler und Frau Dr.med. Erika Krejci auch an dieser Stelle.

Autor:

Prof. Dr. iur. Hans - Joachim Behrendt

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