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DOI: 10.1055/s-2001-16870
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Kommentar zum Vorschlag für ein diagnostisches Schema für Menschen mit epileptischen Anfällen und Epilepsien der Internationalen Liga gegen Epilepsie
Commentary on a Proposed Diagnostic Scheme for People with Epileptic Seizures and with Epilepsy of the International League Against EpilepsyPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
31. August 2001 (online)
Der nachfolgend in deutschsprachiger Übersetzung vorgestellte Zwischenbericht einer Task Force der Internationalen Liga gegen Epilepsie (International League Against Epilepsy; ILAE) ist kein Vorschlag für eine neue internationale Epilepsieklassifikation, sondern ein erster Schritt zur Entwicklung eines einheitlichen diagnostischen Schemas für die tägliche Praxis in der Arbeit mit Epilepsiepatienten. Wissenschaftliche Klassifikationen stellen taxonomische Ordnungssysteme für die in dem jeweiligen Gebiet begegnenden Phänomene dar, während es hier um eine Handreichung für die Einordnung des Einzelfalls gehen wird. Beides ist notwendig und gehört zusammen; ein diagnostisches Schema setzt eine taxonomische Klassifikation voraus und sollte auf sie Bezug nehmen, was hier allerdings nur implizit geschieht.
Außerdem enthält der vorgelegte Entwurf auch eine Reihe von Begriffen, die von den gültigen internationalen Klassifikationen abweichen bzw. über sie hinausgehen. Insofern bedeutet er auch eine Vorbereitung für eine mittelfristig geplante Revision der Klassifikation von epileptischen Anfällen und Epilepsien. Es besteht deshalb eine gewisse Gefahr, dass diese Ebenen verwechselt werden, was unbedingt vermieden werden sollte.
Der nachfolgend abgedruckte Text wurde auf der Mitgliederversammlung der ILAE in Buenos Aires am 17. Mai 2001 zur Publikation als Diskussionspapier freigegeben und ist in englischer Sprache im Juni-Heft von Epilepsia erschienen [1]. An seiner Erarbeitung waren als Mitglieder der Task Force zahlreiche internationale Epileptologinnen und Epileptologen beteiligt, aus Deutschland u. a. einer von uns (P. W.). Der Text wird sicherlich weiterhin Anlass zu vielen Diskussionen geben. Einiges darin ist auch innerhalb der Task Force noch umstritten, die inzwischen weitere Änderungen vorgenommen und sich als Nächstes eine Klärung folgender Aspekte zur Aufgabe gemacht hat:
Welche Anfallsformen und Epilepsien sind beim myoklonischen Status zu berücksichtigen? andere Befunde und Zeichen von Temporallappenanfällen, Sollen sekundär generalisierte (tonisch-klonische) Anfälle als eigenständige Anfallsform berücksichtigt werden oder soll es einen eigenständigen Abschnitt zur Anfallsentwicklung und -ausbreitung geben? Reflexanfälle und Reflexepilepsien, Nonkonvulsiver Status als eigenständige Anfallsform? Wie soll mit familiären Epilepsie-Syndromen im Gegensatz zu individuellen Syndromen (z. B. „generalisierte Epilepsie mit Fieberanfällen + [GEFS+]” und „familiäre fokale Epilepsie mit variablen Herden”) verfahren werden? Idiopathische generalisierte Epilepsien mit variablen Phänotypen: ein Syndrom? Soll es eine Kategorie für idiopathische fokale Epilepsien mit variablen Phänotypen geben? Sollen die spät beginnenden kindlichen Epilepsien mit okzipitaler Epilepsie als Syndrom beibehalten werden? „Kryptogen” versus „wahrscheinlich symptomatisch”.
Positiv und begrüßenswert sind unseres Erachtens unter anderem die folgenden Vorschläge bzw. Präzisierungen:
diagnostische Beschreibung auf vier bis fünf Ebenen einschließlich einer ersten ohne Benennung von Anfalls- oder Epilepsieformen und einer (optionalen) fünften mit den resultierenden Beeinträchtigungen (z. B. hinsichtlich Arbeitsfähigkeit oder Fahrtauglichkeit), Verlassen der Begriffe „partiell” und „lokalisationsbezogen” zugunsten von „fokal” (wobei für Epilepsien mit fokalen Anfällen aber ohne konstanten Krankheitsherd noch ein geeigneter Begriff gefunden werden muss), Verlassen der Begriffe „Konvulsion/konvulsiv” und „Krampf”, Verlassen der verwirrenden Dichotomie von fokalen Anfällen in „einfache” und „komplexe” (insbesondere nachdem sich gezeigt hat, dass das Fehlen bzw. Vorhandensein einer begleitenden Bewusstseinsstörung ohne verlässlichen lokalisatorischen Wert ist), Erweiterung der Bedeutung des Begriffs „fokal” auf diffuse, u. U. weit ausgedehnte und bilaterale Areale zerebraler Dysfunktion, Klarstellung der Bedeutung von „kryptogen”, Streichen des Zusatzes „infantil” bei „infantilen Spasmen”, Einführen der Lidmyoklonien (mit und ohne Absencen) als neue Anfallsform, Präzisierung des Konzepts der Reflexepilepsien, Aufnahme von „in Entwicklung befindlichen” Epilepsie-Syndromen, Einführung der Begriffe „epileptische Enzephalopathie” und „Epilepsie-Krankheit”, Klarstellung der derzeitigen Bedeutung genetischer Befunde.
Unseres Erachtens sind z. B. jedoch neben den bereits angesprochenen Punkten u. a. noch die folgenden Fragen zu klären:
fehlende Berücksichtigung des frontalen fokalen Status epilepticus (Tab. 3), Klarstellung, dass nicht nur sofort auftretende und frühe postischämische Anfälle, sondern auch alle anderen sofort und früh nach entsprechenden Ereignissen (z. B. Schädel-Hirn-Traumen oder neurochirurgische Operationen) auftretenden Anfälle keine Epilepsiediagnose rechtfertigen (Tab. 4), Beibehalten der Aufwachepilepsie mit generalisierten tonisch-klonischen Anfällen (Aufwach-Grand-mal-Epilepsie) als Epilepsie-Syndrom (Tab. 4), Bezeichnung von „Oligo-Epilepsien” als „Oligo-Anfälle”, wenn die „Oligo-Epilepsien” nicht mehr den Epilepsien zugeordnet werden sollen (Tab. 5).
Auch in dem bislang nur über das Internet zugänglichen Glossar einer deskriptiven Terminologie der iktalen Semiologie ([2]; eine Publikation in Epilepsia ist ebenfalls vorgesehen) sind noch Präzisierungen erforderlich. Unter anderem werden 13 unterschiedliche Formen epileptischer Automatismen unterschieden, wobei jedoch kompliziertere, „zusammengesetzte” Formen wie An- und/oder Ausziehen, Ein- und/oder Ausräumen, Verstecken/Verkriechen, Verrücken von Möbeln oder Weglaufen nicht berücksichtigt wurden.
Obwohl oder auch gerade weil noch viele Fragen offen sind, halten wir eine breite Diskussion für erforderlich. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil alle Interessierten ausdrücklich aufgerufen sind, ihre individuellen oder nationalen Kommentare (über die jeweilige Liga-Sektion) an die Task Force zurückzumelden.
Literatur
- 1 Engel J. A proposed diagnostic scheme for people with epileptic seizures and with epilepsy: Report of the ILAE Task force on Classification and Terminology. Epilepsia. 2001; 42 796-803
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2 http://www.epilepsy.org/ctf/gloss_frame.html.
Dr. med. Günter KrämerMedizinischer Direktor
Schweizerisches Epilepsiezentrum
Bleulerstraße 60
8008 Zürich
Schweiz
eMail: g.kraemer@swissepi.ch