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DOI: 10.1055/s-2001-18408
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Neuer Kurs im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst; ärztliche Professionalität zwischen Sozialer Pädiatrie, Betriebsmedizin und interdisziplinärer Gesundheitsförderung[*]
Towards a New Line in Public School Health Service; the Medical Profession in the Fields of Social Pediatrics, Occupational Health and Multiprofessional Health PromotionPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
13. November 2001 (online)

Zusammenfassung
Lebenswelten und gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik haben sich fundamental gewandelt. Gemeinschaftseinrichtungen, wie Schule und Kindergarten, sind oft nicht mehr nur Familienunterstützung, sondern Familienersatz. Die ärztliche Individualversorgung ist zwar weitgehend flächendeckend sichergestellt, das Inanspruchnahmeverhalten und der Gesundheitszustand zeigen nach wie vor aber sozialepidemiologisch deutliche Gradienten. Die erforderlichen Maßnahmen einer interdisziplinären Gesundheitsförderung und sozialen Kompensation können nur am „Arbeitsplatz Gemeinschaftseinrichtung” die gesamte Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen antreffen. Neben diesem bevölkerungsbezogenen Zugang ist aber auch ein erheblicher und zunehmender Bedarf besonders der Schulen an individueller medizinischer Experteninformation aufgrund der Umsetzung des Integrationsgedankens für kranke und behinderte Kinder zu erkennen. Dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst erwächst hierbei neben der eigenen individualmedizinischen Beratung eine wichtige Koordinations- und Vermittlungsfunktion zwischen betreuender Pädiatrie in Praxis und Klinik einerseits sowie Schulverwaltung und Schule andererseits. Für professionelle ärztliche Mitarbeiter im KJGD sind die hierfür zu erwartenden fachliche Voraussetzungen: Kenntnis der normalen kindlichen Entwicklung und ihrer Spannbreite, Kenntnis des Gesundheitssystems und der regionalen Versorgungsstrukturen, Grundkenntnisse in der Epidemiologie, kommunikative und soziale Kompetenzen, klinische Erfahrung in Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Betriebsmedizin. Die fachärztlichen Gebietsbezeichnungen Kinderheilkunde und öffentliches Gesundheitswesen sind hierbei natürlich wünschenswert, können aber jeweils für sich das erforderliche Profil nicht vollständig abdecken. Bildungseinrichtungen für den Öffentlichen Gesundheitsdienst müssen daher ihre Fortbildungsangebote auf die dargestellten Erfordernisse im KJGD einstellen. Kinder- und Jugendgesundheitsdienste werden künftig eigene schulbetriebsärztliche Konzepte entwickeln müssen, überwiegend vor Ort in den Gemeinschaftseinrichtungen Schule oder Kindergarten präsent sein und eine kundenorientierte Berichterstattung für Schule, Gemeinde und Ärzteschaft liefern. Bei Fortbestehen der Jahrgangsuntersuchungen sollte deren Durchführung weitgehend qualifiziertem Assistenzpersonal übertragen werden, damit ärztliche Mitarbeiter für individuelle ärztliche Fragestellungen verfügbar bleiben und sich in ihrer Professionalität zunehmend den sozialepidemiologisch erhobenen medizinischen Versorgungsdefiziten zuwenden können.
Abstract
The circumstances of life and the health status of children and adolescents in Germany have undergone fundamental changes. Public institutions, such as schools or kindergartens more often are not only support but a substitute for family structures. Individual medical care being guaranteed, seeking for prevention and treatment and health status differ widely according to sociological patterns. Health care and social compensation programmes on a multiprofessional basis will thus be accessible only in a very general sense to all youth at the public institution of a school. Besides all the general public health programmes in schools, medical expertise on an individual level is becoming more and more important because of the increasing number of classes integrating diseased and disabled children in regular school. The public school health services will not only act as individual medical experts themselves but more as coordinators of all medical and health promoting efforts on an administrative, school, inpatient and outpatient level. Medical professionals working in public school health services will therefore have to be trained in the following spheres: normal range of developmental milestones, knowledge of health systems and regional structures of health care, epidemiological basics, communicative and social training, clinical expertise in the fields of general paediatrics, child psychiatry and occupational health. Being fully trained in clinical paediatrics and public health will surely be an asset, but will not cover all the requirements for successfully working in school health care. For this reason the programmes of higher education in public health have to be adjusted to the recent demands in this special field of work. School health services will have to engage in occupational health and will have to be present mostly in the school buildings proper. School health services will have to report and publish epidemiological data for use by school, community and medical professionals. In case of continued compulsory medical examination of schoolbeginners wide use should be made of qualified assistant personnel, so that physicians can focus on true medical problems in school and moreover will be enabled to deliver medical expertise and treatment within the community to people and population groups in need.
Schlüsselwörter
Jugendgesundheitsdienst - Betriebsmedizin - Schulgesundheitsförderung - Gesundheitsberichterstattung - Professionalität - Soziale Ungleichheit
Key Words
School Health Service - Occupational Health - School Health Promotion - Health Report - Medical Profession - Social Inequality
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Kinderarzt, FA für öGW
Leiter der Akademie
für öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf
Auf'm Hennekamp 70
40225 Düsseldorf
URL: http://www.afoeg.nrw.de