Aktuelle Neurologie 2002; 29: 22-23
DOI: 10.1055/s-2002-27794
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Prüfung unerwünschter Wirkungen von Antiepileptika im Tiermodell

Animal Experiments and Anticonvulsant Side EffectsUlrich  Ebert1 , Wolfgang  Löscher1
  • 1Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie, Tierärztliche Hochschule Hannover
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Publication Date:
03 May 2002 (online)

Bei der Behandlung von Epilepsiepatienten mit klassischem Antiepileptika, wie Phenytoin, Carbamazepin und Valproat, kann eine Vielzahl von unerwünschten Arzneimittelwirkungen auftreten [1]. Dabei ist zwischen relativ moderaten Nebenwirkungen (z. B. Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Gewichtszunahme) und schwer wiegenden Nebenwirkungen zu unterscheiden. Durch Antiepileptika verursachte Nebenwirkungen sind in der Regel dosisabhängig, nicht schwerwiegend und gehen teilweise während der Behandlung im Schweregrad zurück. Schwer wiegende Nebenwirkungen treten zwar meist nur bei sehr wenigen Patienten auf, können aber lebensbedrohlich sein und äußern sich z. B. in Leber-, Haut- und Blutbildschäden. Neue Antiepileptika, von denen in den vergangenen 10 Jahren eine größere Anzahl auf den Markt kamen, wurden auch mit dem Ziel entwickelt, Substanzen mit weniger Nebenwirkungen zur Verfügung zu haben. Zunehmende Erfahrungen mit den neuen Antiepileptika, wie Vigabatrin, Felbamat und Lamotrigin, zeigen jedoch, dass auch die neuen Antiepileptika unerwünschte Wirkungen haben, die zum Teil denen älterer Antiepileptika ähneln (Tab. [1]). Wurden mögliche Nebenwirkungen während der präklinischen Entwicklung der neuen Antiepileptika vielleicht nicht oder nicht genügend berücksichtigt?

Tab. 1 Idiosynkratische Nebenwirkungen von Antiepileptika bei Patienten. I. klassische Antiepileptika CBZ ETX PB PHT VPA Agranulozytose X X X X X aplastische Anämie X X X X Leberversagen X X X X Dermatitis/Hautrötung X X X X X Stevens-Johnson-Syndrom X X X X X Pankreatitis X X X II. neue Antiepileptika FBM GBP LTG OXC TPM TGB Agranulozytose X aplastische Anämie X Leberversagen X Dermatitis/Hautrötung X X X X X X Stevens-Johnson-Syndrom X Pankreatitis Beschriebene Idiosynkrasien bei einzelnen epileptischen Patienten für klassische und neue Antiepileptika sind durch „X” gekennzeichnet (nach Glauser 4). Abkürzungen: CBZ = Carbamazepin; ETX = Ethosuximid; FBM = Felbamat; GBP = Gabapentin; LTG = Lamotrigin; OXC = Oxcarbazepin; PB = Phenobarbital; PHT = Phenytoin; TGB = Tiagabin; TPM = Topiramat; VPA = Valproinsäure

Angesichts der gesetzlichen Auflagen für die Zulassung neuer Arzneimittel kann diese Frage ganz klar verneint werden. Potenzielle neue und insbesondere die für eine Dauermedikation bei chronischen Erkrankungen, wie z. B. bei Epilepsie, vorgesehenen Medikamente unterliegen strikten Prüfrichtlinien, die langwierige pharmakologische und toxikologische Untersuchungen einschließen. Die nationalen Prüfrichtlinien basieren auf der Richtlinie 75/318/EWG des Europäischen Rates und beinhalten neben der Abklärung der pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Charakteristika des Wirkstoffs eine Prüfung auf Toxizität unter akuter, subchronischer und chronischer Verabreichung des neuen Antiepileptikums sowie Tests um mutagene, kanzerogene und teratogene Wirkungen auszuschließen. Diese Untersuchungen müssen an Versuchstieren durchgeführt werden. Meist werden Ratten und Mäuse verwendet. Für die Ermittlung einer toxischen Wirkung nach mehrmaliger (2 - 4 Wochen) oder chronischer (3 - 6 Monate) Gabe und einer möglichen teratogenen Wirkung müssen die Untersuchungen bei zwei verschiedenen Arten aus verschiedenen Familien der Säugetiere durchgeführt werden, weshalb auch Hunde und Kaninchen neben den Labornagern für diese präklinischen Untersuchungen verwendet werden. Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist die Grundlage für die Zulassung zur klinischen Prüfung neuer Antiepileptika. Die zunehmenden Anforderungen an die präklinische Abklärung von möglichen unerwünschten Nebenwirkungen zögert die Entwicklung neuer Pharmaka immer weiter hinaus. Augenblicklich dauert es ca. 6 Jahre, bis alle Untersuchungen abgeschlossen sind und die klinische Entwicklung beginnen kann. In diesem Zeitraum wird die weitere Entwicklung bei der überwiegenden Mehrheit von neuen Substanzen beendet, ohne je im Menschen getestet zu werden, weil schon bei den oben aufgezählten präklinischen Untersuchungen Hinweise auf nicht akzeptable unerwünschte Wirkungen gefunden wurden.

Trotzdem zeigen die in den letzten zehn Jahren zugelassenen neuen Antiepileptika weiterhin unerwünschte Nebenwirkungen im klinischen Alltag. Woran liegt das? Zunächst lassen sich die Nebenwirkungen in verschiedene Typen einteilen. Direkt auftretende Nebenwirkungen sind in der Regel dosisabhängig und vom Patienten unabhängig. Sie äußern sich z. B. in Sedierung oder Schwindelgefühl und können in der Regel auch dosisabhängig im präklinischen Tierexperiment erzeugt werden. Idiosynkratische Nebenwirkungen sind dagegen äußerst selten, dosisunabhängig und abhängig vom Patienten. Sie treten in weniger als 0,1 % der Population auf, machen aber etwa 10 % der Nebenwirkungen aus. Weitere Typen von Nebenwirkungen sind solche, die erst unter chronischer Gabe (z. B. Toleranz) oder längere Zeit nach der Gabe (z. B. Kanzerogenität) auftreten. Während die akuten und chronischen Nebenwirkungen neuer Antiepileptika meist in geeigneten Tiermodellen präklinisch erkannt werden und daher z. B. durch Dosisanpassung beherrschbar sind, stellen die Idiosynkrasien ein Problem dar, das bisher in der Regel ohne Vorwarnung aus der präklinischen Entwicklung über die neue Substanz hereinbricht [2].

Diese mangelnde Vorhersagbarkeit idiosynkratischer Reaktionen in tierexperimentellen Untersuchungen scheint mehrere Ursachen zu haben. Idiosynkrasien treten so selten auf, dass sie erst erkannt werden, wenn das neue Antiepileptikum zugelassen ist und in der klinischen Phase IV mehr als 100 000 Epilepsiepatienten mit der neuen Substanz behandelt wurden. Dies kann bei einer potenten Substanz, mit der sehr schnell sehr viele ansonsten schwer therapierbare Patienten behandelt werden, in ein bis zwei Jahren der Fall sein (z. B. aplastische Anämie unter Felbamat), dauert aber ansonsten, wie bei den Gesichtsfeldeinschränkungen unter Vigabatrin, mehrere Jahre. In der präklinischen Phase werden kleine Tiergruppen (20 Tiere pro Untersuchung) behandelt, so dass die Chance der Erkennung einer selten auftretenden idiosynkratischen Reaktion sehr gering ist. Ein zweites Problem stellt die Tatsache dar, dass bestimmte idiosynkratische Reaktionen bei Versuchstieren nicht oder nur bei sehr hohen Dosen auszulösen sind. Hautreaktionen auf Valproat treten z. B. bei Hunden nur bei vielfach höheren Dosen als beim Menschen und in Ratten gar nicht auf [3]. Die Ursache für die idiosynkratischen Nebenwirkungen liegen in genetischen Polymorphismen in der Patientenpopulation [4]. Patienten mit bestimmten Allelen für metabolisierende Enzyme oder Transporterproteinen für Pharmaka im Körper können idiosynkratische Wirkungen zeigen, während Träger anderer Allele frei von solchen Reaktionen sind. Idiosynkrasien treten daher am ehesten in einer genetisch sehr heterogenen Population auf, wo einzelne Träger einer Kombination von bestimmten Polymorphismen Nebenwirkungen ausbilden. In dieser Hinsicht ist es auch als Problem für die Erkennung von Idiosynkrasien zu sehen, dass für präklinische Untersuchungen von neuen Arzneimitteln vorzugsweise genetisch homogene Zuchttiere verwendet werden. Allerdings hat die pharmazeutische Industrie das Problem der Polymorphismen erkannt. Innerhalb eines neuen Bereichs, der Pharmakogenomik, wird versucht, die idiosynkratischen Reaktionen auf ein Medikament mit bestimmten Polymorphismen (u. a. Zytochrom c, HLA-Antigene) zu korrelieren. Ziel ist es, letztendlich aus dem individuellen Profil an genetischen Polymorphismen eine maßgeschneiderte Pharmakotherapie für jeden einzelnen Patienten entwickeln zu können [5].

Eine weitere Möglichkeit, die Prädiktivität von Tiermodellen für unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu erhöhen, ist die Verbesserung oder die bessere Auswahl der Tiermodelle. Gerade bei Epilepsie ist zu erwarten, dass die Hirnveränderungen durch die Erkrankung selbst einen Einfluss auf die Arzneimittelwirkung haben. Pathophysiologische und pathomorphologische Veränderungen, z. B. im Bereich der Ionenkanäle, können Wirkung und Nebenwirkung einer Substanz bei einem Patienten gegenüber einer gesunden Person verändern. Ein Beispiel hierfür ist die Verabreichung von d-CPPene, eines Antagonisten für den N-Methyl-d-Aspartat(NMDA)-Subtyp des Glutamatrezeptors, der bei Epilepsiepatienten, nicht aber bei gesunden Probanden psychiatrische Nebenwirkungen hervorrief [6]. Ganz analog zeigen gesunde Ratten bei einer Dosierung von NMDA-Antagonisten noch keine Verhaltensauffälligkeiten, die bei experimentell-induziert epileptischen Ratten schon massive Nebenwirkungen hervorrufen [6].

Generell ist auffällig, dass alle Antiepileptika, egal ob klassisch oder neu, allergische Hautveränderungen hervorrufen (Tab. [1]), obwohl diese Substanzen über ganz verschiedene Mechanismen ihre antikonvulsive Wirkung entfalten. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die verwendeten Tiermodelle in der präklinischen Entwicklung von Antiepileptika möglicherweise gerade diese Nebenwirkung selektieren.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass die bei der Arzneimittelentwicklung gesetzlich festgelegten präklinischen Untersuchungen mit Versuchstieren geeignet sind, um die Gefahr schwer wiegender unerwünschter Arzneimittelwirkungen auf ein geringes Maß zu reduzieren [2]. Es sollte sicherlich kontinuierlich geprüft werden, ob die verwendeten Tiermodelle nicht nur für die Quantifizierung der erwünschten, sondern auch der unerwünschten Wirkungen die bestmöglichen sind. Die seltenen, aber oft schwer wiegenden dosisunabhängigen idiosynkratischen Reaktionen sind im Tierexperiment praktisch nicht vorhersehbar.

Literatur

  • 1 Greenwood R S. Adverse effects of antiepileptic drugs.  Epilepsia. 2000;  41, Suppl 2 42-52
  • 2 Löscher W, Marquardt H. Sind Ergebnisse aus Tierversuchen auf den Menschen übertragbar?.  Dtsch Med Wschr. 1993;  118 1254-1263
  • 3 Löscher W. Valproate. Basel; Birkhäuser 1999
  • 4 Glauser T A. Idiosyncratic reactions: new methods of identifying high-risk patients.  Epilepsia. 2000;  41, Suppl 8 16-29
  • 5 McLeod H L, Evans W E. Pharmacogenomics: unlocking the human genome for better drug therapy.  Ann Rev Pharmacol Toxicol. 2001;  41 101-121
  • 6 Löscher W, Schmidt D. Strategies in antiepileptic drug development: is rational drug design superior to random screening and structural variation?.  Epilepsy Res. 1994;  17 95-134

Dr. med. Ulrich Ebert

Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmazie · Tierärztliche Hochschule Hannover

Bünteweg 17

30559 Hannover