Fortschr Neurol Psychiatr 2002; 70(8): 418-428
DOI: 10.1055/s-2002-33060
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychische Störungen durch globale gesellschaftliche Veränderungen

Zur politischen Traumatisierung der Bevölkerung in den neuen BundesländernPsychiatric Disorders Caused by Global Social Change Traumatization Among the Inhabitants of the former GDR J.  Frommer1
  • 1Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Leiter: Prof. Dr. med. J. Frommer) an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
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Publikationsdatum:
30. Juli 2002 (online)

Zusammenfassung

Mehr als ein Jahrzehnt nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung sind die Spätfolgen politischer Traumatisierung in der Bevölkerung der neuen Bundesländer immer noch unübersehbar. In der DDR waren zwischen 1945 und 1989 ca. 300 000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Diese Personen waren zu einem nicht unerheblichen Anteil physischer und psychischer Folter ausgesetzt. Ein weit größerer Bevölkerungsanteil erfuhr jedoch unterschwellige Traumatisierungen durch Repressalien im öffentlichen und privaten Leben. Als Folge dieser Beeinträchtigungen wurden bisher überwiegend spezifisch geartete posttraumatische Belastungsstörungen diskutiert, gekennzeichnet durch intrusive Nachhallerinnerungen, Vermeidungshaltungen und vegetative Stigmatisierung. Darüber hinaus sollten aber auch spezifische Anpassungsstörungen im Sinne eines Kulturschocks Berücksichtigung finden: Ein großer Teil der Bevölkerung der ehemaligen DDR fand sich nach der politischen Wende in einen einschneidenden Prozess der Auseinandersetzung mit der postmodernen Kultur der westlichen Hemisphäre geworfen, den es im Sinne einer krisenhaften Identitätsentwicklung zu bewältigen galt. Die einzelnen Stadien dieses als Intimisierung der Wendeproblematik bezeichneten Prozesses werden typologisch verdichtet dargelegt und unter psychopathologischer und psychodynamischer Perspektive diskutiert.

Abstract

More than a decennium after the reunion of East and West Germany, the psychological sequelae of traumatic experiences of East Germans are still evident. There were not only about 300 000 people imprisoned for political reasons in the German Democratic Republic between 1945 and 1989, partly exposed to physical and psychological torture, but also much more people subject of subthreshold traumatic experiences by harassment in public and private life. As a result, under a psychiatric perspective it should be taken into account not only specific post-traumatic stress disorders (PTSD), characterized by reliving of the traumata in intrusive flashbacks, avoidance of circumstances associated with the traumatic experiences, and increased psychological sensitivity and arousal, but also specific Adjustment disorders, or cultural shocks: many people of the former GDR had to deal with adjustment difficulties of different types to the new cultural environment after the reunion, which could be characterized as becoming intimate with post-modern Western culture within a process of identity development. This process encloses different phases or stages discussed under psychopathologic and psychodynamic perspective.

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Prof. Dr. med. Jörg Frommer, M. A.

Leiter der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie · Klinikum der Otto-von-Guericke-Universität

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

eMail: joerg-frommer@medizin.uni-magdeburg.de