Suchttherapie 2002; 3(4): 195-196
DOI: 10.1055/s-2002-38825
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

Ingo Flenker
Further Information

Publication History

Publication Date:
19 December 2002 (online)

Mit 247 Patientinnen und Patienten startete 1987 an acht Standorten in NRW ein wissenschaftliches Erprobungsvorhaben zur medikamentengestützten Rehabilitation bei i.-v.-Opiatabhängigen. Heute werden ca. 50 000 Opiatabhängige bundesweit im Rahmen einer Substitutionstherapie behandelt. Dazwischen liegen 15 Jahre kontinuierlicher Entwicklung der Therapie, vor allem aber der Rahmenbedingungen, unter denen Ärztinnen und Ärzte die Behandlung durchführen können. Bis zum heutigen Tag hat sich die Substitutionsbehandlung - die übrigens so umfassend evaluiert ist wie keine andere Behandlungsmethode der Heroinabhängigkeit - auch in Deutschland als weitgehend anerkannte Therapieform etabliert. Unstrittig ist mittlerweile, dass es sich bei Suchterkrankungen um chronische Erkrankungen handelt, deren Behandlung häufig jahre- oder sogar jahrzehntelange therapeutische Bemühungen erfordert. Die Substitutionstherapie ist erwiesenermaßen eine adäquate Möglichkeit, die chronische Opiatabhängigkeit in differenzierter Weise hinsichtlich der individuellen Zielsetzung zu behandeln. Dieser Entwicklung haben auch zu Anfang eher skeptische Beobachter - z. B. die Rentenversicherungsträger - Rechnung getragen, die allein auf Abstinenzbehandlung setzten: Sie bieten inzwischen die medizinische Rehabilitation Drogenabhängiger in einigen ihrer Rehabilitationseinrichtungen für Abhängigkeitskranke bei übergangsweisem Einsatz eines Substitutionsmittels an.

Durch die Einführung weiterer Substitutionsmedikamente neben dem bis Mitte der 90er-Jahre in Deutschland fast ausschließlich verwendeten Levomethadon besteht heute die Möglichkeit, die opiatabhängigen Patienten differenzierter zu behandeln.

Die medizinische Therapie hat also Fortschritte gemacht und vor allem an Anerkennung gewonnen. Allerdings ist die Substitutionstherapie Opiatabhängiger im Vergleich zu anderen medizinischen Behandlungsmethoden in Deutschland von Anfang an an umfassende gesetzliche und leistungsrechtliche Vorschriften gebunden. Im Laufe der vergangenen 15 Jahre haben für die Substitutionstherapie mehrere Novellierungen der betäubungsmittel- sowie leistungsrechtlichen Vorschriften stattgefunden:

Am Anfang stand die Klärung der rechtlichen Zulässigkeit der ärztlichen Behandlung eines opiatabhängigen Menschen mittels eines Betäubungsmittels. Sie wurde durch die Änderung des Betäubungsmittelgesetzes Anfang der 90er-Jahre herbeigeführt. Wie und unter welchen Bedingungen das Verschreiben eines Substitutionsmittels zur Behandlung einer Opiatabhängigkeit stattzufinden hat, wurde in einem eigens dafür vorgesehenen Paragrafen in der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (§ 5 BtMVV) geregelt. Darüber hinaus wurde in der letzten Novellierung der BtMVV eine - berechtigte - Forderung an die Qualifikation der substituierenden Ärzte festgeschrieben. Die Ärzteschaft hat diese Anforderung bereits 1998 mit der Einführung der Fachkunde „Suchtmedizinische Grundversorgung” vorweggenommen. Insbesondere zur Vermeidung von Doppelbehandlungen wurde die Einführung eines zentralen Substitutionsregisters (§ 5 a BtMVV) gesetzlich festgeschrieben. Jede Substitutionsbehandlung ist seit 2001 durch den jeweiligen Behandler nach einem festgelegten Schema umgehend an das inzwischen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eingerichtete zentrale Substitutionsregister zu melden. Dieses Register wird uns erstmalig die tatsächliche Anzahl der in Deutschland substituierten Patienten benennen können, ohne wie bisher auf Schätzverfahren zurückgreifen zu müssen.

Nach einem umfassenden Diskussionsprozess wurden 1996 entsprechende Leitlinien der Bundesärztekammer (BÄK) veröffentlicht. Autorisiert durch den Gesetzgeber, den allgemeinen Stand der medizinischen Wissenschaft für die Erfüllung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Behandlung, die Auswahl des Substitutionsmittels und die Bewertung des bisherigen Erfolgs der Behandlung festzulegen, veröffentlichte die Bundesärztekammer im Mai 2002 Richtlinien zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger. Die Einhaltung dieser Richtlinien hat für jeden substituierenden Arzt einen hohen Verbindlichkeitscharakter. Die Richtlinien stellen zweifelsfrei klar, dass die manifeste Opiatabhängigkeit mittels einer Substitutionstherapie behandelt werden kann und das es keiner weitergehenden Erkrankung bzw. weitergehender Indikationen bedarf. Durch die BÄK-Richtlinien ist der medizinisch-fachliche Rahmen für die Substitutionsbehandlung gesetzt. Behandelt der Arzt jedoch einen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung, hat er zusätzlich die so genannten BUB-Richtlinien als Leistungsrichtlinien zu beachten. In der Vergangenheit haben die Leistungsrichtlinien eher als Verhinderungsrichtlinien fungiert. Die - medizinisch falsche - Prämisse, dass Opiatsucht allein nicht als Begründung für eine Substitutionsbehandlung ausreichte, sondern stets eine Begleiterkrankung wie Hepatitis oder HIV vorliegen musste, war eine für viele Behandlungen kaum zu überwindende Hürde. Gleichzeitig schreckte ein hoher bürokratischer Aufwand durch das Antrags- und Genehmigungsverfahren in jedem Einzelfall viele Ärztinnen und Ärzte von einem Engagement in der Substitutionsbehandlung ab. Um es deutlich zu sagen: Die bisherigen BUB-Richtlinien mit ihren unbegründet hohen Anforderungen haben bislang den ausreichenden und flächendeckenden Ausbau niedrigschwelliger Hilfsangebote für Drogenabhängige stark eingeschränkt - um nicht zu sagen behindert. Aus medizinischer Sicht unsinnig behindert, denn wir wissen aus wissenschaftlichen Studien: Vermehrte differenzierte und qualitativ durchgeführte Substitutionsangebote wirken sich auf die Zahl der Drogentoten mindernd aus! Der drogenabhängige Patient - so die langjährige Forderung der Ärzteschaft - muss wie jeder andere Patient auch behandelt werden können. Ärztliche Hilfe kann nicht davon abhängig gemacht werden, wann und ob der Patient am Ende die Drogenfreiheit erreicht. Niemand käme auf die Idee, anderen chronisch kranken Patienten - z. B. Diabetikern oder Asthmatikern - ärztliche Hilfe zu verweigern, nur weil das Maximalziel, nämlich die Heilung, nicht erreicht werden kann. Seit Oktober 2002 ist nun der Text der neu gefassten BUB-Richtlinien - nach einigem Gezerre zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und der Bundesärztekammer auf der einen und dem Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen auf der anderen Seite - bekannt. Der langjährigen und immer wieder vorgetragenen Forderung, dass eine bestehende Opiatabhängigkeit auch ohne Zweiterkrankung durch die gesetzlichen Krankenkassen als behandlungsbedürftige Erkrankung angesehen wird, wird in den neuen Richtlinien nach nun über zehn Jahren entsprochen. Damit wird das Leistungsrecht endlich den medizinischen Vorgaben und auch den BÄK-Richtlinien angepasst. Grundsätzlich sind die neuen BUB-Richtlinien eigentlich nichts Neues, denn weiterhin gilt: Die Substitutionsbehandlung bleibt leistungsrechtlichen und bürokratischen Anforderungen unterworfen, die es so für andere Krankheiten nicht gibt. Warum das aber sein muss und bleiben soll, ist nicht erklärlich: Die Erfahrung lehrt uns vielmehr, dass sich die Qualität ärztlicher Arbeit nicht durch schärfere Regelwerke und Überbürokratisierung der Behandlung verbessern lässt. Wesentliches Element der neuen BUB-Richtlinie ist der Ausbau der Qualitätssicherung bei der Substitutionsbehandlung. Dazu wird eigens bei der jeweiligen KV eine Qualitätssicherungskommission eingerichtet, deren Aufgabe es u. a. ist, durch eine Zufallsauswahl mindestens 2 % der abgerechneten Behandlungsfälle pro Quartal anhand der vom Behandler einzureichenden patientenbezogenen Dokumentation hinsichtlich der Qualität zu überprüfen. Ob sich die neuen Richtlinien bewähren und sich die Qualitätssicherung nicht als bürokratisches Instrument zur Mengenbegrenzung der Behandlungsfälle entpuppt, wird die Praxis zeigen. Qualitätssicherung ist prinzipiell begrüßenswert, aber nicht als Selbstzweck oder zum Aufbau neuer bürokratischer Hürden. Die vorgesehenen Qualitätssicherungsmaßnahmen sollten vielmehr als Unterstützung für die kontinuierliche Qualitätsentwicklung in den einzelnen Praxen genutzt werden. Durch die Implementierung von Qualitätssicherungselementen sollen dem substituierenden Arzt und seinen Mitarbeiterinnen praktische Arbeitshilfen für die Behandlung seines Patienten wie für die rechtlich einwandfreie Durchführung der Therapie gegeben werden. Deutlich machen müssen wir an dieser Stelle aber auch: Wer Qualität einfordert - wie die Krankenkassen in ihren BUB-Richtlinien -, muss auch für die entsprechenden finanziellen Rahmenbedingungen sorgen. Die Definition des Leistungsrechts muss meiner Ansicht nach auch nachvollziehbare und gesicherte Kostenregelungen beinhalten. Wer z. B. zwölf Gespräche pro Quartal mit den Patienten fordert, muss auch zwölf Gespräche bezahlen. Die leistungsrechtlichen und betäubungsmittelrechtlichen Forderungen in der Substitutionsbehandlung müssen kompatibel mit dem Vergütungssystem sein. Dies betrifft nicht zuletzt auch - wie seit Jahren immer wieder deutlich gemacht - die finanzielle Absicherung der psychosozialen Betreuung. Die vorgelegten neuen BUB-Richtlinien formulieren hier Arbeitsaufträge an die Psychosozialen Betreuungsstellen - z. B. Ausstellen von schriftlichen Bestätigungen in jedem Einzelfall -, machen aber in der Präambel weiter deutlich, dass die vorgesehene psychosoziale Betreuung nicht unter die Leistungspflicht der GKV fällt.

Insgesamt haben wir mit den neuen BUB-Richtlinien einen Schritt nach vorn getan. Viele von uns immer beklagte bürokratische Hindernisse gehören nun der Vergangenheit an. Wir werden aber darauf achten müssen, dass die neuen Anforderungen an die Qualitätssicherung in der Substitutionstherapie nicht als Ersatz für den gerade abgeschafften Bürokratismus aufgebaut werden. Ziel der Qualitätssicherung muss es vielmehr sein, Bürokratie auf ein Minimum zu senken und den Behandlungsablauf zugunsten der Patienten zu optimieren. Dazu sollten die ärztlichen Körperschaften - wie es die BÄK-Richtlinien vorschlagen - gemeinsam ein pragmatisches Vorgehen entwickeln und dadurch eine sinnvolle Verzahnung der geforderten Maßnahmen herstellen. Dies könnte z. B. auch die gemeinsame Besetzung der einzurichtenden Kommissionen sein. Vorschläge zur Entwicklung eines internen Qualitätssicherungssystems in der ärztlichen Praxis wie z. B. das Handbuch zur Qualitätssicherung in der ambulanten Substitutionstherapie (ASTO-Handbuch) liegen bereits vor und werden kontinuierlich weiterentwickelt.

Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren: Es geht immer um eine möglichst optimale, flächendeckende und angemessene Versorgung opiatabhängiger Patienten.

Prof. Dr. med. Ingo Flenker

Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Vorsitzender des Ausschusses „Sucht und Drogen” der Bundesärztekammer

Gartenstraße 210-214

48147 Münster