Sprache · Stimme · Gehör 2003; 27(3): 99-100
DOI: 10.1055/s-2003-42532
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

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EditorialC. Iven
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Publikationsdatum:
29. September 2003 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

der Themenschwerpunkt des vorliegenden Heftes befasst sich mit einem Bereich der Sprachentwicklung, der sowohl in der Forschung als auch bei der Konzeption von Diagnose- und Therapieverfahren über lange Jahre ein Schattendasein gefristet hat, aber jetzt aus seinem „Dornröschenschlaf” zu erwachen scheint. Die semantisch-lexikalische Entwicklung wird nicht mehr nur mit dem Wortschatz-Aufbau, d. h. einem quantitativen Zuwachs an Vokabular, gleichgesetzt: Neuerdings rücken immer mehr qualitative Aspekte des Begriffs- und Bedeutungserwerbs in den Mittelpunkt der Forschung, aber auch der konzeptionellen Grundlagen für die Diagnose- und Therapiepraxis.

Ein Grund dafür, warum sich die Grundlagenforschung zur Kindersprache zurzeit vermehrt mit der semantisch-lexikalischen Entwicklung befasst, ist sicher darin zu suchen, dass es mittlerweile eine Reihe an Prozess- und Erklärungs-Modellen gibt, die genauere Hypothesen über die vom Kind aktiv mitgestalteten Schritte und Strukturen des Bedeutungserwerbs zulassen. Besonders die Forschungsansätze zum frühen und frühesten Spracherwerb haben sich hier als wertvoll erwiesen, da sie die große Bedeutung der semantisch-lexikalischen Entwicklung für den gesamten Spracherwerb hervorheben. In einem sehr lesenswerten, auch fachhistorisch außerordentlich interessanten Abriss zu den theoretischen Grundlagen des Spracherwerbs schreibt eine „Grande Dame” der Sprach(erwerbs)forschung, Dr. Irina Weigl [1]: „Die Aneignung jeder Lexikoneinheit öffnet ein kleines Fenster, durch welches man blicken kann, zum Spracherwerb als Ganzes, zu seinen verschiedenen Bereichen und Mechanismen. Semantik, Syntax, Morphologie, Phonologie und Pragmatik erfahren im Wort ihre Konkretisierung und Funktionalität.” Zur Bedeutung der Semantik erklärt dieselbe Autorin: „Die Semantik hat für alle sprachlichen Ebenen konstitutive und integrative Funktion, gleichzeitig stellt der Erwerb semantischer Fähigkeiten eine Grundlage der kognitiven und kommunikativen Entwicklung dar” [2].

Diese Sichtweise des Begriffs- und Bedeutungserwerbs als Motor der gesamten frühen Sprachentwicklung wird von vielen Untersuchungsergebnissen aus der Säuglingsforschung sowie der patholinguistischen und entwicklungspsychologischen Forschung zum frühen Spracherwerb gestützt. Dabei hat sich insbesondere die Grenze der ersten 50 Wörter, die ein Kind im Alter von ca. 18 Monaten erworben haben sollte, als kritische Grenze erwiesen: Erst wenn ein Kind ein ausreichend großes Repertoire an Inhaltswörtern erworben hat, geht es zum Erwerb von Funktionswörtern, grammatischen Regeln und phonologischer Systematik über. Diese Erkenntnis wird mittlerweile konsequent für die Diagnose von Risiko-Kindern genutzt: „Wenn Kinder im Alter von zwei Jahren noch keine 50 Wörter sprechen, sind sie also nicht nur beim Wortschatzerwerb verzögert, sondern auch in ihrer grammatischen Entwicklung gefährdet. Hinter der simplen Zahl 50 steckt also sehr viel, so dass ihrer Diagnose eine hohe prädiktive Kraft zukommt” [3]. Die jüngst entwickelten Verfahren der Frühdiagnostik (z. B. ELFRA-1 und ELFRA-2 [4], SETK-2 und SETK3 - 5 [5], Patholinguistische Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen [6]) rücken daher folgerichtig neben den weiteren Sprachebenen auch die produktiven und rezeptiven Fähigkeiten im semantisch-lexikalischen Bereich in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Die Beiträge in diesem Heft, die sich mit der Entwicklung und Diagnose semantisch-lexikalischer Störungen befassen, geben einen ausführlichen Überblick über Grundlagen und diagnostische Anforderungen, wenn man in diesem Bereich fundierte Aussagen treffen möchte. Das Wissen um die „Bedeutung des Bedeutungserwerbs” schlägt sich jedoch erfreulicherweise nicht nur in der Konzeption neuerer Diagnoseverfahren nieder, sondern wird auch als Begründung für früheste Förderung und als konzeptionelle Grundlage für Fördermaßnahmen genutzt. Die Therapiestudien, die in diesem Heft vorgestellt werden, erlauben eine Einschätzung des derzeitigen Kenntnisstandes und sollen es den Therapeuten „vor Ort” ermöglichen, ihre Therapie spezifisch auf die semantisch-lexikalische Ebene auszurichten.

Ich hoffe, dass es mit diesem Heft gelingen kann, einen oft vernachlässigten Bereich des Spracherwerbs etwas mehr in den Vordergrund des Interesses zu rücken und danke allen Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen an dieser Zielsetzung mitgewirkt haben.

Literatur

  • 1 Weigl I, Reddemann-Tschaikner M. HOT - ein handlungsorientierter Therapieansatz für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen. Thieme-Verlag Stuttgart; 2002: S. 25
  • 2 ebd., S. 18. 
  • 3 Grimm H. Frühe Diagnose sprachlicher Entwicklungsstörungen: Was wird warum untersucht?. In: de Langen-Müller, U./Iven, C./Maihack, V. (Hrsg.): Früh genug, zu früh, zu spät? Modelle und Methoden zur Diagnostik und Therapie sprachlicher Entwicklungsstörungen von 0 - 4 Jahren. Prolog Köln; 2003, im Druck
  • 4 Grimm H, Doil H. Elternfragebogen für die Früherkennung von Risikokindern. (ELFRA-1, ELFRA-2). Hogrefe Göttingen; 2000
  • 5 Grimm H. SETK-2: Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (2;0 - 2;11). Diagnose rezeptiver und produktiver Sprachverarbeitungsfähigkeiten. Hogrefe, Göttingen 2000. Grimm, H.: SETK 3 - 5. Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (3;0 - 5;11). Diagnose von Sprachverarbeitungsfähigkeiten und auditiven Gedächtnisleistungen. Hogrefe, Göttingen 2001. 
  • 6 Kauschke C, Siegmüller J. Patholinguistische Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen. Urban & Fischer München; 2002

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