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DOI: 10.1055/s-2003-43469
Einwände gegen die ärztliche Suizidhilfe
Objections to Physician-Aided SuicidePublikationsverlauf
Publikationsdatum:
10. November 2003 (online)
In den 60er- und 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde das Prinzip der menschlichen Autonomie für psychisch Kranke zunehmend relevant. Ohne Zweifel war dies zunächst eine positive Entwicklung, die den psychiatrischen Patienten aus der Rolle eines fremder Verfügungsgewalt Unterworfenen zu befreien geeignet erschien. Es ist andererseits bekannt und hier nicht weiter auszuführen, dass der emanzipatorische Aufruhr der 68er-Revolte bei aller Betonung der bürgerlichen Autonomie zu schlimmen Fehlentwicklungen in der Psychiatrie führte. Die Auswüchse der italienischen Psychiatriereform und in Deutschland die destruktiven Aktivitäten des Heidelberger sozialistischen Patientenkollektivs sind dafür eindrucksvolle Beispiele. Der ärztliche Paternalismus wurde als eine zu bekämpfende Fehlhaltung gebrandmarkt, die autonome Selbstbestimmung des psychisch Kranken wurde ohne Rücksicht auf die Besonderheiten seelischen Krankseins propagiert. Das eifrige Bemühen um die Sicherung der Rechte des Patienten im asymmetrischen Verhältnis zum Arzt führte zu einer forcierten Verrechtlichung der Beziehungen von Patient und Arzt, die den Entscheidungsraum des ersteren gegen den als übermächtig gedachten Arzt erweitern sollte. Auch wenn eine infantile Rolle des Kranken gegenüber seinem Arzt mit guten Gründen als nicht angemessen anzusehen ist, so ist die gleichsam mitleidlose Verwirklichung der Autonomisierung durch die Justiz in den westlichen Industriestaaten potenziell kontraproduktiv, weil sie zur Verringerung des Schutzes des krankheitsbedingt häufig eben doch nicht zur vollen Selbstbestimmung Fähigen führen kann. Der Aufbau eines Schutzwalls gegen die befürchtete Expansion ärztlicher Befugnisse kann zur Folge haben, dass der Arzt sich seinerseits dahinter verschanzt und zum Schaden des Kranken eine für ihn selbst risikoarme Defensivmedizin betreibt. Mit dem Stichwort des ärztlichen Paternalismus ist entsprechend modernen Kommunikationstheorien ein gut handhabbarer Kampfbegriff formuliert worden, der die im Sinne progressiver Modernität zu bekämpfende Haltung eindrücklich umreißt. Lungershausen (1996) hat die „reine Lehre” (Heinrich, [1985]) realistisch relativiert mit der Feststellung, dass unter bestimmten Bedingungen (ärztliche Verhinderung einer Suizidhandlung z. B.) die ethische Rechtfertigung paternalistischen Verhaltens gegeben sei [1] [2]. Es muss als unangemessene Analogisierung bezeichnet werden, wenn nach gewissen juristischen Auffassungen das Recht auf Leben auch das Recht auf (ärztlich assistiertes suizidales) Sterben beinhaltet. Lungershausen (1996) bestreitet zu Recht den Sieg der freien Selbstbestimmung des Menschen über die Situation im Suizid [1]. Er sieht in der Selbsttötung den Sieg der Situation über den in ihr Gefangenen. Er zitiert eine Bemerkung Schopenhauers, in der dieser feststellt, dass es niemals das Leben ist, das verneint wird, sondern die Umstände, unter denen es gelebt werden soll.
Die Befürworter von aktiver Euthanasie und ärztlich unterstütztem Suizid übersehen, dass die als Menschenrecht postulierte Selbstbestimmung durch psychische Störungen aufgehoben oder beeinträchtigt sein kann und dass der Psychiater aus vergleichbaren Gründen gegen die Suizidabsicht eines Patienten handeln darf und muss, wie er eine zwangsweise Unterbringung eines Kranken nach den entsprechenden Gesetzen zu veranlassen hat. Die Absolutsetzung der Autonomie ist falsch. Es ist eigentümlich, dass in den hochentwickelten Industriestaaten eine Fülle von freiheitseinschränkenden Gesetzen und Vorschriften auf so gut wie allen Lebensgebieten klaglos hingenommen wird, während lautstarke Gruppen die Befreiung vom Lebensschutz mit großem öffentlichen Widerhall fordern können. Die angestrebte Erweiterung der menschlichen Autonomie wird widersinnig, wenn der Kranke bzw. Depressive sich mit ärztlicher Hilfe töten soll, während durchaus noch Aussicht auf Erfolg einer antidepressiven Therapie besteht. Der körperlich oder psychisch Schwerkranke kann durchaus zu einer Belastung für seine soziale Umwelt werden, er könnte sich dann in der Pflicht sehen, Familie und Gesellschaft weiteren Pflegeaufwand durch (ärztlich assistierten) Suizid zu ersparen. Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass bei scheinbar sachlichen Feststellungen in der Öffentlichkeit über die demografische Entwicklung mit der Zunahme der Alten das Bedauern mitschwingt, dass man diese Entwicklung nicht verhindern kann. Dabei fällt auf, dass diese Sorgen häufig von jüngeren Leuten geäußert werden, die durch ihr eigenes limitiert reproduktives Verhalten zur Verformung der Bevölkerungspyramide beitragen. Die monströsen „Ausmerze”-Aktionen der Nationalsozialisten gegen „unnütze Esser” verhindern erstaunlicherweise das Umsichgreifen der Billigung der aktiven Euthanasie und des ärztlich unterstützten Suizids nicht. Den Befürwortern der ärztlichen Hilfe zum Suizid ist offenbar auch noch nicht aufgefallen, dass ihre Haltung einem negativen ärztlichen Paternalismus entspricht, ohne affirmative Haltung des Arztes angesichts der Suizidalität des Patienten ist der „Erfolg” der unterstützten Selbsttötung ja nicht denkbar.
Das ärztliche Standesrecht fordert nach wie vor vom Arzt, dass er einem Suizidenten gegenüber lebenserhaltend interveniert. Die Schwierigkeit, die ärztliche Hilfspflicht an den Eintritt der Handlungsunfähigkeit des Suizidenten zu knüpfen, kann zu höchst merkwürdigen, wenn nicht gar widersinnigen Ergebnissen führen: Der Arzt müsste dann zwar den suizidalen Krebskranken nicht daran hindern, die tödliche Dosis Schlaftabletten zu nehmen, wohl aber müsste er den Suiziderfolg abwenden, sobald der Kranke das Bewusstsein verloren hat. Vielen Juristen ist die ärztliche Auffassung, nach der eine paternalistische Handlungsweise zur Suizidverhinderung dann gerechtfertigt ist, wenn erwartet werden kann, dass der Betroffene später dafür dankbar sein wird, zu simpel. Für den Arzt besteht allerdings die Schwierigkeit, dass die juristischen Meinungen durchaus nicht einheitlich sind, was den in der aktuellen Situation handeln müssenden Arzt verunsichern kann. Der Betonung der Autonomie des psychisch Kranken steht die anscheinend wieder zunehmend vertretene Auffassung von der eingeschränkten Schuldfähigkeit von Straftätern aus tiefenpsychologischen Gründen gegenüber [3]. Psychisch Kranken wird gleichsam die Last der Selbstbestimmung - auch mit tödlichen Folgen - aufgebürdet, Straftätern wird die selbst bestimmte Verantwortlichkeit abgesprochen. Psychiater sollten auf diese Widersprüche hinweisen.
Die Argumentation, die bei der Würdigung der ärztlichen Mittäterschaft beim Suizid allein von Gedanken der Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen bestimmt wird, ist nur scheinbar frei von anthropologischen Voraussetzungen. Diese Auffassung enthält in Wahrheit eine dezidierte anthropologische Prämisse - Autonomie im Sinne der Autarkie und Selbstgenügsamkeit, die am gesunden, leistungsbewussten und keiner Hilfe bedürftigen Individuum abgelesen ist. Die frühere ärztliche Sicherheit, dass der Arzt Leben zu befördern und den Tod zu verhindern bzw. hinauszuschieben habe, ist verloren gegangen. Der hippokratische Eid mit seinen einschlägigen Vorschriften war in seiner schlichten Transzendenz eindeutig, das christlich bestimmte Ideal ärztlichen Handelns ließ keine Relativierung der ärztlichen Pflicht zur Erhaltung des Lebens zu. Charakteristisch für den herrschenden Zeitgeist ist die Tatsache, dass die Patient-Arzt-Beziehung nach herrschender Rechtsauffassung einem Vertrag zwischen gleichartigen Partnern entspricht, dessen Gegenstand eine definierte Leistung gegen Bezahlung ist. Die seit etwa zwei Jahrzehnten eingetretene grundlegende Änderung mit dem Verschwinden der Transzendenz als eines Grundwertes und damit mit dem Verblassen der christlichen Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen kennzeichnet die Leitlinien der aktuellen bioethischen Diskussion. Dominierend ist die sog. Diskursethik, nach der eine Entscheidung oder Bewertung dann moralisch richtig ist, wenn alle von ihr Betroffenen im freien und echten Austausch ihr zustimmen können. Neben der Lehre von der Autonomie des Menschen besteht eine pragmatisch-kasuistisch orientierte Tendenz zur Kosten-Nutzen-Orientiertheit. Der Begriff der „Heiligkeit des Lebens” wird als obsolet betrachtet. Die geforderte ärztliche Bereitschaft, den Menschen aus einer depressiv-suizidalen Befindlichkeit durch Herbeiführung des Todes zu „befreien”, wird grundsätzlich nicht mehr durch die Anerkennung des Lebens als eines höchsten Wertes verhindert [4].
Der Arzt hat sich angesichts der Probleme der ärztlichen Beihilfe zum Suizid auf tragfähige Grundlagen einer die Anforderungen der täglichen Praxis bestehenden allgemeinen Ethik zu besinnen. Die herrschende säkulare Bioethik wird dieses notwendige Fundament nicht liefern können. Die zeitgenössische Ethik-Diskussion weist Züge einer Mode auf, sie ist häufig für den psychiatrischen Alltag unbrauchbar, in dem ein Weg gefunden werden muss zwischen Freiheitsberaubung und unterlassener Hilfeleistung. Die Frage, ob die jetzigen Ethik-Diskussionen nicht schlicht eine Fortsetzung des postmodernen Diskurses sind, in dem Werte nicht stabilisiert, sondern relativiert werden (Finzen, [5]), trifft ein wesentliches Merkmal der Situation. Dass ethisch relevante Entscheidungen aufgrund von epochal wechselnden, situations- und kontextabhängigen Diskussionsergebnissen gefällt werden sollen, ist beunruhigend. Der aufscheinende Ökonomismus, der als hintergründiger Faktor in der öffentlichen Diskussion als wesentlich erkannt werden muss, ist in höchstem Maße bedenklich. Die ärztliche Sicherstellung des Gelingens der Selbsttötung eines suizidalen Menschen beseitigt auch einen Kostenfaktor. Selbstverständlich verurteilt man den kruden Ökonomismus der Nationalsozialisten mit politisch korrekter Entrüstung, Entsprechungen der Ergebnisse werden dabei übersehen. Der Arzt muss wissen, dass er seine ärztliche Integrität aufgibt, wenn er sich zum Todbringer machen lässt. Er darf nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden [6].
Literatur
- 1 Lungershausen E. Paternalismus und Autonomie in bezug auf den suizidalen alten Menschen. In: Payk Th R (Hrsg). Perspektiven Psychiatrischer Ethik Stuttgart: Thieme 1996
- 2 Heinrich K. Öffentlichkeit und „reine Lehre” in der Psychiatriegeschichte. Fortschr Neurol Psychiat. 1985; 53 177-184
- 3 Lüderssen K. Wir wissen noch nicht genug. Versuch einer Nachforschung: Warum Magnus Gäfgen kein Pardon kannte. Frankfurter Allg Zeitung 2003 Nr. 182
- 4 Heinrich K. Zur Ethik der Arzt-Patient-Beziehung bei suizidalen Depressionen. Imago Hominis. 2002; 9 159-170
- 5 Finzen A. Sozialpsychiatrische Aspekte der Ethik. In: Pöldinger W, Wagner W (Hrsg). Ethik in der Psychiatrie. Wertebegründung - Wertedurchsetzung Berlin: Springer 1991
- 6 Bron B. Beihilfe zum Suizid - ethische, juristische und psychiatrische Aspekte. Fortschr Neurol Psychiat. 2003; 71 579-589
Prof. Dr. med. em. K. Heinrich
Rheinische Kliniken - Psychiatrische Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Bergische Landstraße 2
40629 Düsseldorf