ZFA (Stuttgart) 2003; 79(12): 579-585
DOI: 10.1055/s-2003-816015
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Diskreditierende Versorgungsstudien in deutschen Hausarztpraxen - Oder: Der Versuch, die Prävalenz von Krankheiten und die medikamentöse Behandlungsbedürftigkeit zu steigern?

Discrediting studies in German general practices - or: how to increase prevalence of diseases and the need for drug treatment?Stefan Hensler, Armin Wiesemann
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. Januar 2004 (online)

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Zusammenfassung

Hintergrund: In den letzten Jahren finden sich zunehmend Publikationen zur Qualität allgemeinmedizinischer Versorgung, in denen von steigenden Prävalenzen der untersuchten Erkrankungen und mangelnder Versorgung durch Hausärzte berichtet wird. Methodik: Es wurden exemplarisch die medienwirksamen Studien der Arbeitsgruppe des Psychologen und Epidemiologen H.U. Wittchen zu den Erkrankungen Depression, generalisierte Angststörung, Hypertonie und Diabetes im Hinblick auf die gemachten Aussagen, das Vorgehen und den Umgang mit der hausärztlichen Praxis analysiert. Resultate: Es sind eine Reihe von Fragwürdigkeiten in Studiendesign und -Auswertung erkennbar. So sind die verwendeten diagnostischen Tests zur Prävalenzerhebung im Niedrigprävalenz-Bereich des Hausarztes weniger gut geeignet und produzieren eine erhöhte Morbidität. Die Behandlungs- und Überweisungsrate als alleiniges Qualitätskriterium bildet die hausärztliche Realität ungenügend ab. Die Erhebung an einem Stichtag wird dem prozesshaften diagnostischen und therapeutischen Vorgehen in der Allgemeinmedizin nicht gerecht. Schlussfolgerungen: Die mangelnde Beachtung allgemeinmedizinischer Bedingungen lassen auch scheinbar sauber durchgeführte Studien zu Fehlschlüssen kommen; die Ausweitung des Krankheitsbegriffs diskreditiert gleichzeitig die hausärztliche Tätigkeit im Sinne unterlassener (medikamentöser) Therapie. Hausärzte sollten sich vor Beteiligung an epidemiologischen Studien über die Ziele und Sponsoren informieren.

Summary

Background: Over the past few years there has been a growing number of papers on the quality of primary medical care reporting an increase in prevalence of diseases and insufficient treatment. Methods: The strongly promoted studies by a research group led by the psychologist and epidemiologist H.U.Wittchen on depression, generalized anxiety disorder, hypertension and diabetes were taken as an example to be analysed. Findings: The review showed some problems in design of the studies and its evaluation. The diagnostic tests used to measure prevalence are not suitable for the low prevalence of the studied diseases in general practice, thus resulting in higher false morbidity. Also, the restriction on data collected on one single day does not take into account the fact that in many cases diagnosis and therapy are to be carried out over a long period of time. Conclusions: Lack of attention to the specialties in general practice results in misapprehensions even in seemingly correctly designed studies; an extended definition of illness does not do justice to the general practitioner and makes him appear to withhold treatment (drugs). Before taking part in epidemiological studies family doctors should inform themselves about the sponsor and his aims and should prefer studies conducted under adequate GP supervision.

Literatur

Dr. Stefan Hensler

Institut für Allgemeinmedizin

Theodor-Stern-Kai 7

60590 Frankfurt

eMail: s.hensler@em.uni-frankfurt.de

Zur Person

Dr. med. Stefan Hensler

Facharzt für Allgemeinmedizin, seit 2000 wiss. Mitarbeiter am Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt a.M., Mitglied der Sektion Versorgungsaufgaben der DEGAM.

PD Dr. med. Armin Wiesemann

Facharzt für Allgemeinmedizin, Leiter der Sektion Versorgungsaufgaben der DEGAM und des Arbeitsschwerpunktes Lehre der Sektion Allgemeinmedizin & Versorgungsforschung der Universität Heidelberg.