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DOI: 10.1055/s-2004-818803
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
80 % aller Alkoholpatienten werden in der ärztlichen Praxis gesehen
Publication History
Publication Date:
09 February 2004 (online)
Für kaum eine Gruppe von Patienten fühlen wir Ärzte uns so wenig ausgebildet und so inkompetent wie für Alkoholpatienten. Damit tragen wir ungewollt dazu bei, dass im Schnitt zehn Jahre zwischen dem Beginn einer Abhängigkeit und der ersten Entwöhnungsbehandlung vergehen. Vergleicht man diese Zahl mit der Latenz zwischen Diagnostik und erster stationärer Intervention bei anderen potenziell zum Tode führenden Krankheiten, so wird der Nachholbedarf an Kenntnissen und Erfahrungen noch deutlicher. Die Situation lässt sich mit der Aussage einer Krankenschwester am besten beschreiben: „Bei Ärzten und Pflegepersonal herrschen die Vorurteile, dass Suchtpatienten vorsätzlich und völlig freiwillig ihr Leben zerstören und es somit eigentlich nicht mehr verdient haben, im Krankenhaus versorgt zu werden. Schließlich müssten sie ja nur aufhören, ihre Suchtmittel einzunehmen.” Dabei hat die neuere Forschung überzeugende Belege geliefert, wonach die Minderung der Kontrolle über Beginn, Höhe und Beendigung des Alkoholkonsums wesentlich für das Syndrom der Abhängigkeit ist und ein erfolgreicher Umgang damit in der Therapie nicht vorausgesetzt werden kann. Mit anderen Worten „Sucht hat wenig mit Willen und nichts mit Charakter zu tun” .
Die vorliegende Ausgabe von psychoneuro widmet sich den skizzierten Defiziten. In den letzten Jahren wurden eine Reihe neuer Ansätze sowohl für die qualifizierte Behandlung als auch für eine völlig neuartige medikamentöse Therapie von Alkoholabhängigen entwickelt. Neben einem Beitrag zur Komorbidität sind sie Gegenstand der nachfolgend abgedruckten Arbeiten.
So gibt es beispielsweise neue Daten, wonach die Weiterentwicklung der traditionellen körperlichen Entgiftung zur sog. Qualifizierten Entzugsbehandlung deutlich mehr Patienten schon primär zu einer längerfristigen Abstinenz verhilft und einer zusätzlich größeren Anzahl von Patienten den Weg in die weiterführenden Entwöhnungsbehandlungen in spezialisierten Fachkliniken ebnet. Den potenziell größten Fortschritt im Sinne der Erreichbarkeit großer Gruppen von Patienten dürfen wir von der Einführung neuer sog. Anticraving-Substanzen erwarten. Beispielsweise kann unter der Behandlung mit Acamprosat im Vergleich zur Plazebo-Therapie von einer Verdoppelung der Chance zur Abstinenz ausgegangen werden. Dies ist auch für den Arzt von Bedeutung, will er die körperliche Entgiftung seiner Patienten in eine stabile Abstinenzphase überführen. Alle Maßnahmen sollten flankiert werden von regelmäßigen Kontakten mit Suchtberatungsstellen und Selbsthilfegruppen. Eine zunehmend größere Zahl niedergelassener Kolleginnen und Kollegen hat in den letzten Jahren die Zusatzqualifikation „suchtmedizinische Grundversorgung” erworben und steht somit als kompetenter Partner für die ambulante Weiterbetreuung zur Verfügung. Viele der genannten Punkte sind mittlerweile Konsens zwischen Forschung, Versorgung und Suchtpolitik. Beispielhaft hierfür seien die „Berliner Eckpunkte zur Verbesserung der Therapie bei Alkoholproblemen” aufgeführt:
Alkohol und Nikotin verursachen 25 % aller Behinderungen und Todesfälle. Die derzeitige (Rehabilitations-)Behandlung ist gut, sie erreicht aber zu wenige Betroffene und setzt insgesamt zu spät ein. Früherkennung und Frühintervention sind neue niedrigschwellige Ansätze in der Frühphase einer Abhängigkeitsentwicklung. Sie erfordern eine Zusatzqualifikation bei Ärzten, Psychologen und Suchtberatern. Die Aus- und Weiterbildung der Ärzte in Suchtmedizin muss verbessert werden. Die „suchtmedizinische Grundversorgung” stellt einen ersten Ansatz im Bereich der ärztlichen Fortbildung dar. Der „qualifizierte Entzug” ist eine medizinische Sofortintervention, die über somatische und psychologische Zugänge Veränderungsbereitschaft und Abstinenzmotivation induziert. Als Sofortintervention ist der qualifizierte Entzug eine Kassenleistung, dessen Art und Umfang ärztlich begründet ist. Jedes fünfte Krankenhausbett ist de facto ein Suchtbett, deshalb muss die qualifizierte Beratung im Krankenhaus Standard werden. Der Ausbau ambulanter und teilstationärer wohnortnaher Hilfsangebote ist erforderlich. „Anticraving-Medikamente” verdoppeln die Abstinenzrate und erhöhen die Haltequote in der ambulanten Betreuung von Alkoholabhängigen. Die Selbsthilfe ist so zu qualifizieren, dass sie durch spezielle Angebote auch für jüngere attraktiv ist, denn sie trägt bei zum dauerhaften und rechtzeitigen Erfolg.
Literatur
- 1 Mann K, Lehert P, Morgan M. The efficacy of acamprosate in maintaining abstinence in alcohol dependent individuals: results of a meta-analysis. Alc Clin Exp Res.
- 2 Mann K. Neue Therapieansätze bei Alkoholproblemen. Pabst Verlag Lengerich. 2002;
- 3 Mann K. Neue ärztliche Aufgaben bei Alkoholproblemen. Dtsch. Ärzteblatt.. 2002; 10 632-644
- 4 Smolka NM, Kiefer F, Mann K. Fortschritte in der Behandlung von Alkohol-abhängigen : die medikamentöse Rückfallprophylaxe. 2003; 65-69
- 5 Wienberg G. Versorgungsstrukturen von Menschen mit Alkoholproblemen in Deutschland - eine Analyse aus Public Health-Perspective. In: Mann K (Hrsg.) (2002): Neue Therapieansätze bei Alkoholproblemen. Pabst Verlang Lengerich. 2002;