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DOI: 10.1055/s-2004-820331
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Verhungern lassen als Folge eines Tabus
Publication History
Publication Date:
19 August 2004 (online)
Zwei der drei Texte zur Palliativmedizin in diesem Heft beziehen sich auf Ernährung und Flüssigkeitszufuhr. Der Artikel von Frau Dr. Weibler-Villalobos stellt eine empirische Studie der Versorgung mit Sondennahrung in Pflegeeinrichtungen dar. Die Arbeit macht zutiefst betroffen. Bei mir resultiert die Betroffenheit jedoch aus ganz anderen Gründen als denen, die in der Öffentlichkeit bisher diskutiert wurden.
Es wird dort nämlich davon ausgegangen, dass die Ärzte unter Budgetzwang nicht ausreichend Kalorien bei Patienten mit PEG-Sonde verschreiben oder dies aus Unkenntnis geschieht. Letzteres ist für meine Begriffe kaum möglich: Auf den Flaschen ist die Kalorienmenge angegeben und selbst ohne „Spezialkenntnisse” über den höheren Kalorienverbrauch in Krankheit etc. weiß jeder Arzt, dass der Ruhebedarf schon um die 1 200 bis 1 400 Kalorien liegt.
Die geäußerte Annahme einer Angst vor Budgetüberschreitung mit der Folge eines Verhungern-Lassens sehe ich als ungeheuerliche Unterstellung der Ärzteschaft gegenüber an. Es wird unterstellt, dass Ärzte zur Umgehung eines Regress-Verfahrens, Menschen verhungern lassen. Das dabei angeführte Regress-Verfahren selbst ist schon eine „Konstruktion” - ich möchte einmal den Ausschuss sehen, der moniert, dass „so viel” Sondennahrung verschrieben wurde.
Wie kann man zu solchen abwegigen Annahmen - Wissensmangel - oder ungeheuerlichen Unterstellungen - Verhungern-Lassen aus Budgetangst - kommen? Ich glaube, weil man für den Vorgang überhaupt keine andere Erklärung findet, weil eine nahe liegende nicht gedacht werden darf.
Jedes wirksame Tabu funktioniert im Kopf, Dinge dürfen nicht benannt und dann auch nicht mehr gedacht werden - mit dem Ergebnis, dass ein Thema offiziell nicht mehr thematisierbar ist. Dennoch gibt es das Thema - allerdings nur im Untergrund.
Das deutsche Tabu, über aktive Sterbehilfe überhaupt - zumindest laut - nachdenken zu dürfen, scheint sich hier auszuwirken: Eine Situation, in der alle Beteiligten, Arzt, Pflegende, u. U. Angehörige - teilweise täglich - sehen, wie jemand immer mehr an Gewicht verliert, und unkommentiert lassen, dass die zugeführten Kalorien nicht ausreichen, legt doch eines mehr als deutlich nahe: Man will kollektiv, dass dieser Mensch stirbt. Da man dies nicht unterstützen darf, tun alle so, als ob sie es nicht bemerken. Damit aber niemand darauf kommt, wird so getan, als ob: Es wird halbherzig gehandelt, eine PEG-Sonde gelegt oder übernommen, aber nicht das getan, was man mit einer PEG-Sonde tut, nämlich ausreichend ernähren.
Und noch einmal macht sich unser Denk-Tabu in Richtung Sterbehilfe verheerend für die Versorgten bemerkbar: Mit dem dann doch, aber zu wenig Zugeführten werden die Menschen nun länger in diesem bemitleidenswerten Zustand gehalten - alle aber haben die in Deutschland geforderte Form gewahrt. Da sind wir einfach anders als die Niederländer - ob dies „auch gut so ist”, will ich dahin gestellt sein lassen.
Ich unterstelle wohl berechtigt, dass diejenigen, die hier nicht eingreifen, also nicht mehr „retten” wollen, dies aus einer Gnade dem Patienten gegenüber tun, der unheilbar krank ist, der keinerlei Freude mehr im Leben und keine soziale Rolle mehr hat.
Man kann sagen, dass wir nicht berechtigt sind, „Schicksal” durch unser Handeln zu sein. Dies sind alles ernste Argumente. Nur gibt es ebenso ernste Argumente derjenigen, die aktive Sterbehilfe leisten, sicherlich auch dabei gepeinigt sind, es aber dennoch für diesen Menschen tun. Sie können es dann aber selbst nur noch in diesem halb-entschlossenen Vorgehen: Sonde ja, aber nicht ausreichend Kalorien - und verlängern so die Qual, die sie abkürzen wollen. Schrecklicher ist unser Umgang mit dem Sterben nicht vorstellbar. Dies ist, was mich so betroffen macht.Ihr H.-H. Abholz
Prof. Dr. Heinz-Harald Abholz
Facharzt für Allgemeinmedizin · Abt. Allgemeinmedizin · Heinrich-Heine-Universität
Moorenstraße 5
40225 Düsseldorf
Email: abholz@med.uni-duesseldorf.de