psychoneuro 2004; 30(3): 119
DOI: 10.1055/s-2004-823780
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Entstehung, Diagnose und Früherkennung schizophrener Erkrankungen

Andreas Heinz, Georg Juckel
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Publication Date:
20 April 2004 (online)

Schizophrenien treten weltweit mit einer Lebenszeitprävalenz von etwa 1 % auf. Wieso ist eine teilweise erblich bedingte und oft schwer verlaufende Erkrankung so weit verbreitet und tritt relativ häufig auf? Eine mögliche Erklärung besagt, dass es neben den Krankheitssymptomen auch Auswirkungen der Disposition oder der Erkrankung selbst gibt, die sich - zumindest bei Familienangehörigen oder nur leicht Erkrankten - positiv auswirken. Ein möglicher Grund ist das Fehlen der latenten Inhibition bisher unwichtiger Reize bei schizophrenen Patienten: Wird in einer Versuchsanordnung eine Vielzahl von Reizen präsentiert, von denen aber nur ein einziger als Hinweisreiz fungiert, auf den reagiert werden muss, um eine Belohnung zu erzielen, filtern Gesunde die unwichtigen Reize schnell aus. Wechselt aber unangekündigt die Versuchsanordnung und ein bisher unwichtiger Reiz ist nun der Hinweisreiz, dann brauchen Gesunde meist recht lange, um den Reiz zu entdecken. Von latenter Inhibition wird gesprochen, weil Gesunde sehr viel länger brauchen, den Reiz zu entdecken, wenn er bereits vorhanden, aber bisher unwichtig war, als wenn er neu in der Situation auftritt. Die bisherige Bedeutungslosigkeit des Reizes „hemmt” also seine Wahrnehmung als Hinweisreiz. Anders ist dies bei schizophrenen Patienten: Sie hemmen die Wahrnehmung des bisher unwichtigen Reizes offenbar weniger effektiv, so dass sie ihn schneller erkennen können, wenn er beim Wechsel der Versuchsbedingungen zum Hinweisreiz wird. Zwar brauchen sie insgesamt oft deutlich länger als Gesunde, um die Versuchsanordnung zu bewältigen, gemessen an ihrer üblichen Reaktionszeit gelingt ihnen der Wechsel auf die neue Reizkonstellation aber schneller als den Gesunden [2]. Schizophrene Menschen können also in unüblichen oder neuartigen Situationen beobachten, dass ein vermeintlich wohl bekanntes Zeichen seine Bedeutung ändert und dies einen Hinweis auf das Verständnis der Situation geben könnte - vielleicht ein Grund dafür, dass psychotische Erfahrungen viele Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst haben, die die Situation des Menschen in der Industriegesellschaft neu verstehen wollten [3].

Im vorliegenden Schwerpunktheft sollen die Entstehung und Behandlung der Schizophrenien vorgestellt und ihre Differentialdiagnose und Früherkennung diskutiert werden. Andreas Heinz und Georg Juckel geben einen Überblick über Entwicklung und Stand der Erklärungsmodelle schizophrener Psychosen. Eine derzeit vielversprechende Theorie erklärt schizophrene Psychosen als Folge einer entwicklungsgeschichtlich früh erworbenen Störung der Vernetzung kortikaler Hirnzentren; stressabhängig kann es dann nach der Pubertät zu einer Enthemmung der subkortikalen Dopaminfreisetzung kommen. Die Entstehung kognitiver, affektiver und produktiv psychotischer Symptome wird erklärt und Behandlungsmöglichkeiten und Nebenwirkungen der Medikamente werden erörtert. Jürgen Gallinat, Christiane Montag und Andreas Heinz beschreiben die Differentialdiagnose schizophrener Erkrankungen. Bei schizophrenen Patienten finden sich Funktionsstörungen im Bereich des frontalen Kortex, die mit kognitiven Einschränkungen in Verbindung stehen. Patienten mit familiär gehäuften affektiven Störungen zeigen dagegen Änderungen des regionalen Blutflusses und Glukoseumsatzes im orbitofrontalen Kortex und den Amygdalae, die mit der emotionalen Reizverarbeitung in Verbindung stehen. Georg Juckel, Frauke Schultze-Lutter und Stephan Ruhrmann diskutieren Möglichkeiten zur Früherkennung schizophrener Psychosen. Bildgebende Studien weisen darauf hin, dass beim Fortschreiten der schizophrenen Erkrankung auch die Hirnatrophie zunehmen kann. Eine frühe Diagnosestellung und Intervention eröffnet dagegen die Perspektive, das Fortschreiten der Erkrankung durch psychotherapeutische und gegebenenfalls medikamentöse Therapie günstig zu beeinflussen.

Ziel der Auseinandersetzung mit der Entstehung und Behandlung schizophrener Erkrankungen ist es also, den Verlauf der Erkrankung günstig zu beeinflussen, die medikamentösen Nebenwirkungen so weit wie möglich zu verringern und den Patienten beim Verständnis der oft verwirrenden Erlebnisse und Symptome zu helfen [1]. Die Entmystifizierung schizophrener Erfahrungen sollte zur Entstigmatisierung der Patienten führen.

Literatur:

Prof. Dr. Andreas Heinz
PD Dr. Georg Juckel

Berlin