Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73(3): 127-128
DOI: 10.1055/s-2004-830221
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Neurophilosophie, Neurowissenschaft und Psychopathologie

Neurophilosophy, Neuroscience and PsychopathologyJ.  Klosterkötter1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Köln, Köln
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. März 2005 (online)

Prof. Dr. med. J. Klosterkötter

In dem Beitrag zur Geist-Gehirn-Debatte in diesem Heft [1] wird dafür plädiert, den Bogen der derzeit so breit betriebenen neurophilosophischen Spekulation nicht unangemessen zu überspannen. Welche Annahmen zur Geist-Gehirn-Beziehung sinnvollerweise vertretbar sind und welche nicht, soll sich an dem bisher erreichten Wissensstand der Hirnforschung bemessen, und der gibt nach Meinung des Autors zumindest vorerst eigentlich nicht mehr als gute Gründe für einen „pragmatischen interaktionistischen Dualismus” her.[*]

Nach dieser Position hätte man zunächst der langen cartesianischen Tradition gemäß noch weiterhin davon auszugehen, dass geistig-seelische und körperlich-neuronale Vorgänge unabhängig von einander existieren und gegenseitig einander verursachen können. Insbesondere die Reklamation einer eigenständigen Seinsart für das Mentale (ontologische Implikation), aber auch die Annahme der Unverzicht- und Unersetzbarkeit der mentalistischen Wissensperspektive (epistemiologische Implikation) würden jedoch zugleich auf den Prüfstand der methodologisch immer weiter fortschreitenden Neurowissenschaften gestellt. Sollten deren Ergebnisse in absehbarer Zeit durchsichtig machen, dass und wie sich Geist, Bewusstsein und Ich-Erleben in der Evolution des Gehirns herausgebildet haben, wäre der nötige Wissensstand erreicht, jedenfalls die ontologische Implikation des uns in der modernen westlichen Lebenswelt so selbstverständlichen Dualismus aufzugeben. Ob er damit dann allerdings auch in epistemischer Hinsicht entbehrlich würde, hinge von der Einlösung des neurowissenschaftlichen Anspruchs ab, sämtliche innerpsychischen, in der ersten Person-Perspektive subjektiv erlebten Prozesse mitsamt auch ihrer wechselseitigen Zuschreibung im sozialen Leben durch in der Dritte-Person-Perspektive beobachtbare physikochemische Vorgänge beschreibbar zu machen. Solange dies nicht gelungen ist, sollte man auch nicht vorschnell und dementsprechend vergeblich gegen das mentalistische Sprachspiel angehen wollen, mit dem wir uns auf den „subjektiven Geist” und seine objektivierten Erzeugnisse in Kultur und Gesellschaft beziehen [2].

Dessen ungeachtet bestimmen aber Positionen im Sinne des „materialistischen Monismus” den aktuellen Verlauf der Geist-Gehirn-Debatte. Am stärksten provokativ wirken die „reduktive” und erst recht die „eliminative” Variante dieses Materialismus, weil danach die subjektive Introspektion als wissenschaftlich irrelevant und alles, was uns in der Erste-Person-Perspektive an Phänomenen und Intentionen gegeben ist, als „Illusion”, „Täuschung” oder „Trugwahrnehmung” einzustufen wäre. Umgekehrt als am besten verträglich mit unserer Selbsterfahrung, in der wir „Ich” und „Du” zueinander sagen und uns unsere Erlebnisse und Handlungen jeweils als „Meine” oder „Deine” zurechnen, stellt sich dagegen die „nicht-reduktive” Variante dar, die den Erlebnisqualitäten des Geistigen trotz seiner unterstellten Abhängigkeit vom Physischen immerhin eine gewisse Eigenständigkeit belässt. Aber auch diese Version setzt eigentlich schon den lückenlosen Nachweis voraus, dass Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit auf biologischen Prozessen beruhen und dementsprechend auch den Naturgesetzen unterworfen sind.

In der Tat steht das naturalistische Menschenbild, das unter Berufung auf neurowissenschaftliche Befunde schon heute in der Öffentlichkeit verbreitet wird, oftmals in keinem auch nur einigermaßen angemessenen Verhältnis zu dem, was Hirnforscher wirklich inzwischen wissen und können [3]. Veranstalter und Medienfachleute aller Art machen sich, ganz gleich, ob es nun um die Ausrichtung von Kongressen, Feuilletonspalten, Talkshows oder Politikergeburtstagen geht, die Anziehungskraft gerade der besonders provokatorischen Aussagen der Neurophilosophie zunutze. Die Neurowissenschaften alleine hätten wahrscheinlich trotz ihres enormen Aufschwungs und der nachhaltigen Unterstützung durch die Deklaration der Zeit von 1990 bis 2000 zur „Decade of the Brain” (Kongress der USA) und noch einmal der Jahre von 2000 bis 2010 zur „Dekade des menschlichen Gehirns” (Deutsche Stiftungsinitiative) eine solche Breitenwirkung für ihre Ergebnisse gar nicht erreichen können. Die Bereitwilligkeit, mit der der „neuronal turn” gesellschaftlich aufgenommen und auch in Geschichtswissenschaft, Pädagogik oder gar Theologie hineingetragen wird, deutet auf eine langfristige Vorbereitung des geistigen Klimas hin, die bereits mit dem „linguistic turn” der analytischen Philosophie des Geistes in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beginnt [1] [4].

Es ist aber etwas ganz anderes, ein naturalistisches Menschenbild für stimulierende weltanschauliche Auseinandersetzungen zu liefern als dem Programm der modernen Neurowissenschaften gemäß die Funktion des Gehirns von der molekulargenetischen Ebene bis hin zur Verhaltensbiologie tatsächlich auch aufzuklären. Die genetisch-neurobiologische Determination der menschlichen Eigenschaften war bis hin zur Vorstellung vom „geborenen Verbrecher” und den daraus möglicherweise zu ziehenden Konsequenzen für eine Strafrechtsreform auch im 19. Jahrhundert schon ein beliebter Diskussionsgegenstand [4]. Heute können wir für das Bild von uns Selbst ähnliche Konturen zwar antizipieren, müssen aber auch einräumen, dass sich die großen Fragen der Neurophilosophie erst nach 20- bis 30-jähriger weiterer Forschungsarbeit überhaupt sinnvoll werden stellen lassen [3]. Eine Re-Formulierung der kantischen Transzentalphilosophie unter Einbezug darwinistischer Evolutionsbiologie könnte anstehen, wenn sich ein so konstruktivistisches Organ wie das menschliche Gehirn mit den eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu beschäftigen beginnt.

Dass sich in dieser Zukunft dann auch die heute noch überwiegend mentalistischen Einzelwissenschaften der Psychologie und der Psychopathologie im Sinne der „reduktiven” oder „eliminativen Materialismus-Varianten” ohne semantischen Rest durch neuronale Begrifflichkeit ersetzen ließen, ist wenig wahrscheinlich. Derzeit würde jedenfalls der Versuch, bei der Erforschung psychischer Störungen wie Schizophrenie und Depression oder auch neurodegenerativer Leiden wie der Alzheimer'schen Erkrankung nur mit den diesbezüglichen bekannten neurobiologischen Markern auskommen zu wollen, noch zum Verlust des Forschungsgegenstandes führen. Ohne Berücksichtigung der in der Erste-Person-Perspektive subjektiv erlebten mentalen Zustände und Akte könnte man vor allem in der Psychiatrie kaum eine klinische Diagnose stellen und erst recht natürlich auch keinen Patienten behandeln. Die „Endophänotypen”, die für die Aufklärung der molekularen Ätiologie und Pathogenese als verhaltensbiologischer Bezugspunkt benötigt werden, sind für diagnostische Zwecke viel zu unspezifisch [5]. Man nimmt sich bei jeder anstehenden Revision unsere Diagnosesysteme zwar wieder vor, dieses Mal für die Krankheitsdefinitionen mehr neuronale Vorgänge zu benutzen, muss aber dann nach der Durchführung feststellen, dass doch innerpsychische Prozesse für die Diagnosekriterien maßgeblich geblieben sind [6]. Schon allein deshalb ist nicht zu erwarten, dass die auf die Innenperspektive bezogene „subjektive” durch die hirnbezogene „objektive”, „experimentelle” oder, wie es in dem Beitrag in diesem Heft jetzt heißt, „konnektionistische” Psychopathologie vollständig ersetzt werden könnte [7].

Insbesondere für die geplanten klinischen Anwendungen der Neurowissenschaft hängt viel davon ab, ob die „phänomenal-neuronale Perspektivenverknüpfung” bruchlos, also gerade ohne neuronalen Reduktionismus gelingt. Denn andernfalls würde wohl kaum das hochgesteckte Ziel erreichbar sein, in den nächsten zehn Jahren neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson und ähnlich auch psychische Krankheiten wie Schizophrenie und Depression gestützt auf neues molekularbiologisches und genetisches Grundlagenwissen schneller erkennen, vielleicht von vornherein verhindern oder zumindest wesentlich besser behandeln zu können [3]. Wenn zudem führende Neurowissenschaftler für diesen selben Zeitraum erwarten, dass psychische Auffälligkeiten und Fehlentwicklungen, aber auch Verhaltensdispositionen zumindest in ihrer Tendenz voraussehbar würden, sich dementsprechend prinzipiell auch „Gegenmaßnahmen” ergreifen ließen, kommt noch ein anderer wichtiger Grund dafür in den Blick, warum die mentalistische Wissensperspektive auf jeden Fall ihre Bedeutung behalten muss. Der biologistische Determinismus des 19. oder des beginnenden 20. Jahrhunderts hat zu den fatalen ideologischen und politischen Konsequenzen geführt, die wir alle kennen. Dem können wir nur durch eine umso festere Verankerung und Pflege von ethischen Normen entgegenwirken, die man nicht durch unnötige Reduktionismen in der Geist-Hirn-Debatte behindern darf.

Literatur

  • 1 Schäfer M L. Die gegenwärtigen Geist-Hirn-Theorien in der Analytischen Philosophie des Geistes und ihre epistemische Bedeutung für die Psychiatrie.  Fortschr Neurol Psychiat. 2005;  73 129-142
  • 2 Habermas J. Um uns als Selbsttäuscher zu entlarven, bedarf es mehr.  FAZ. 2004;  267 35-36 (Freiheit und Determinismus. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2004; 6)
  • 3 Elger C E. et al .Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Gehirn & Geist 2004 6
  • 4 Geyer C. Vorwort. In: Geyer C (Hrsg.) Hirnforschung und Willensfreiheit. Frankfurt: Suhrkamp 2004: 9-19
  • 5 Klosterkötter J. Wo bleiben die klinischen Diagnosen in der bildgebenden psychiatrischen Forschung?.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 433-434
  • 6 Klosterkötter J. Diagnose und Prognose in der Psychiatrie.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 67-69
  • 7 Jacobs K A, Thome J. Zur Freiheitskonzeption in Jaspers' Psychopathologie.  Fortschr Neurol Psychiat. 2003;  71 509-516

Prof. Dr. J. Klosterkötter

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