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DOI: 10.1055/s-2004-830319
Positionspapier zur Begutachtung der Silikose
Position Paper on Medical Expert Opinion on SilicosisPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
18. August 2005 (online)
Die Silikose zählt zu den ältesten arbeitsbedingten Erkrankungen. In Mumien der Pyramidenbauer Ägyptens finden sich bereits entsprechende Hinweise. Das altägyptische Papyrus Ebers (1500 v. Chr.) [1] erwähnt dieses Krankheitsbild, ebenso der Urvater der westlichen Medizin, Hyppokrates (460 bis 377 v. Chr.).
Im Jahre 1929 wurde die „Staublungenerkrankung” der Steinarbeiter, Bergleute and Metallschleifer als eine der ersten Berufskrankheiten in der Bundesrepublik Deutschland in die Berufskrankheiten(BK)-Liste aufgenommen [2] (heute BK-Nr. 4101). Dabei wird hier zu Lande seit jeher nicht zwischen Erkrankungen durch hohen (z. B. bei Steinmetzen, Sandstrahlern) und Erkrankungen durch relativ geringen Anteil an kristalliner Kieselsäure (SiO2; v. a. Quarz) in der Atemluft unterschieden. In vielen anderen Ländern bezeichnet man dagegen die im Steinkohlenbergbau (Quarzanteil des alveolengängigen Staubs 5 - 12 %) auftretende Form als Kohlenarbeiter-Pneumokoniose (coalworkers' pneumoconiosis). Letztere macht ca. 75 % aller BK 4101-Fälle in Deutschland aus.
In vielen Industrieländern, so auch in der Bundesrepublik Deutschland, kam es nach dem letzten Weltkrieg und dem anschließenden Wirtschaftsboom zu einem enormen Bedarf an fossilen Brennstoffen, der großteils durch den lokalen Abbau von Steinkohle gedeckt wurde. Die jährliche Fördermenge stieg in den 50er-Jahren auf 150 Millionen Tonnen. Gleichzeitig erhöhte sich die Anzahl der allein im Ruhrgebiet und im Saarland unter Tage beschäftigten Steinkohlenbergleute auf 600 000 [3].
Der Einsatz von Hochtechnologie, die zunehmende Nutzung anderer Energien und vor allem die Globalisierung der Wirtschaft haben zwischenzeitlich die Anzahl der Zechen von 175 auf 10 und die Belegschaft auf etwa 44 000 schrumpfen lassen [4]. Nach einem abgestimmten subventionierten Stufenplan wird es innerhalb der nächsten Jahre zur Schließung der meisten verbliebenen deutschen Steinkohlenbergwerke kommen.
Steinkohle wird heute, so weit noch erforderlich (jährlicher Verbrauch derzeit ca. 67 Millionen Tonnen, womit 13,7 % des Primärenergieverbrauchs gedeckt werden), zu fast zwei Drittel preisgünstig importiert, auf dem Schiffsweg aus Südafrika und Kolumbien (im vergangenen Jahr allein im Hamburger Hafenumschlag über fünf Millionen Tonnen) und per Bahn großteils aus osteuropäischen Ländern.
In Drittländer haben wir aber nicht nur die Hochtechnologie der Bergwerke exportiert, sondern auch die mit dem Kohleabbau verbundenen Gesundheitsrisiken verlagert.
Schon in den 50er-Jahren wurden systematisch im deutschen Steinkohlenbergbau arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen mit Involvierung der Lungenfunktionsprüfung und Überwachungen der Belastung durchgeführt [5]. Durch Einsatzlenkung konnte unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse gezielt Erkrankungen vorgebeugt werden. Leider werden diese außerordentlich informativen Daten dem Gutachter in der Regel nicht zugänglich gemacht.
Im Berufskrankheitenrecht ignorierte man lange Zeit, dass die COPD der Steinkohlenbergleute nicht nur bei Nachweis radiologisch fassbarer Veränderungen im Sinne der Silikose, sondern auch überhäufig unabhängig davon und dosisabhängig von der Staubbelastung auftritt [6]. Die Hauptgründe für diese Ignoranz dürften in Anbetracht der enormen Zahl an Beschwerdeträgern wirtschaftlicher Art gewesen sein. Erst mit Einführung der Berufskrankheit Nr. 4111 am 01. 12. 1999 wurde dem seit den 50er-Jahren bekannten Zusammenhang zwischen untertägiger Staubbelastung im Steinkohlenbergbau und dem überhäufigen Auftreten der COPD Rechnung getragen („Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten im Steinkohlebergbau bei Nachweis einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren [(mg/m³) × Jahre)]”). Dennoch ist bist heute ein Großteil der arbeitsbedingt erkrankten Bergleute von der Entschädigung ausgeschlossen. Das liegt daran, dass die BK-Nr. 4111 wegen ihrer Rückwirkungsklausel entsprechende Erkrankungen, die vor dem 01.01.1993 begannen, ausschließt. Zusätzlich wirkt sich über den Bergbau hinaus in sehr restriktivem Sinn die in der Silikosebegutachtung überwiegend zu Grunde gelegte so genannte Moerser Konvention der 60er- und 70er-Jahre aus, nach der im Röntgenbild geringgradig ausgeprägte Silikosen (Streuung < 2/3 bzw. 2/2) nicht entschädigt werden. Die Konvention besagt nämlich entgegen der wissenschaftlichen Datenlage, dass die hierbei beobachteten funktionellen Einbußen nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Silikose zurück zu führen seien. Damit entsteht die paradoxe Situation, dass bei unauffälligem Röntgenbefund und dem Vorliegen einer Belastung von mindestens 100 Feinstaubjahren eine nach dem 31.12.1992 aufgetretene COPD im Steinkohlenbergbau als Berufskrankheit (BK 4111) entschädigt werden kann, bei gleicher Belastung und gleichem klinischen Befund mit einer Silikose der Streuung < 2/3 bzw. 2/2 eine Entschädigung unter der BK 4101 aber systematisch verweigert wird. In praxi werden folglich gering bis mittelgradig gestreute Silikosen mit restriktiver Ventilationsstörung grundsätzlich und die COPD-Altfälle von der Entschädigung ausgeschlossen.
Das vorliegende Positionspapier [7], das von einer Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie erstellt wurde, fasst zunächst den aktuellen Wissenstand über die funktionellen Befunde bei Vorliegen einer Silikose zusammen. Dabei bestätigt sich die bereits in der Begründung der Berufskrankheit Nr. 4111 dargelegte Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen der untertägigen Staubbelastung (Staubjahre) und dem Auftreten der COPD. Patienten mit radiologisch dokumentierter höhergradiger Silikose haben etwas stärkere Funktionseinbuße als solche mit geringgradiger oder fehlender. Bereits bei den Gruppen mit radiologisch geringgradiger oder fehlender Silikose ist aber die Abweichung der klinischen und funktionellen Befunde von Nichtexponierten viel größer (VC 600 - 800 ml) als zwischen den verschiedenen Gruppen der Bergleute. Alle radiologischen Silikose-Kategorien gehen, wie übereinstimmend alle Studien darlegen, mit einer signifikanten Überhäufigkeit klinisch relevanter Beschwerden und Funktionsstörungen einher.
Nicht angesprochen wird in diesem Zusammenhang die Frage, ob das mit der Quarzstaubexposition verbundene erhöhte Bronchialkarzinomrisiko auch für den Steinkohlenbergbau gilt.
Es bleibt zu hoffen, dass dieses Positionspapier nun weitere Konkretisierungen und Untersuchungen initiiert - auch zur COPD durch andere anorganische Stäube - und dass es zu einer gerechteren und besseren Begutachtungspraxis beiträgt. Dies ist auch heute noch bedeutsam, denn derzeit kommen als Spätfolgen der vergangenen Jahrzehnte immer noch jährlich ca. 1500 Fälle mit Verdacht auf Silikose (BK 4101) und etwa 950 mit Verdacht auf COPD (BK 4111) [8] zur Anzeige, wobei es sich im Grunde (sowohl nach klinischen, funktionellen als auch pathologisch-anatomischen Befunden) um ein und dasselbe Krankheitsbild mit nur graduellen Unterschieden der Silikoseknötchen, der restriktiven Funktionseinschränkung, des Emphysems und der Bronchialobstruktion handelt [9].
Literatur
- 1 Papyrus Ebers, Theben, 16. Jh. v. Chr. Ausstellung in Leipziger Universitätsbibliothek am 14. Februar 2002, http://www.hieroglyphen.net/andere/Ebers/ebers.htm
- 2 Drechsel-Schlund C, Butz M, Haupt B. et al .Asbestverursachte Berufskrankheiten in Deutschland - Entstehung und Prognose. Sankt Augustin: Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (Hrsg) HVBG 2002 8
- 3 Europäische Kommission .1952 - 2002: 50 Jahre Kohleforschung der EGKS. Luxemburg: Amt für Amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften 2002
- 4 Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Bergbehörden der Länder .Der Bergbau in der Bundesrepublik Deutschland 2003. Bergwirtschaft und Statistik. o.O 2004 http://www.bmwa.bund.de/Redaktion/Inhalte/pdf/br-der-bergbau-in-der-brd-2003,property = pdf.pdf
- 5 Bauer H-D. Staubjahre. Möglichkeiten der Ermittlung und Einbeziehung unterschiedlicher Messsysteme und Verfahren der Arbeitseinsatzlenkung - Bearbeitungshinweise. Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschafteen HVBG (Hrsg). Essen: Druckzentrum Sutter und Partner GmbH 1995 (BIA-Report 7/95)
- 6 Baur X. Zur Begutachtung der Silikose (BK 4101) sowie der chronischen obstruktiven Bronchitis und des Emphysems von Steinkohlenbergleuten (BK 4111). Arbeitsmed Sozialmed Präventivmed. 1999; 34 368-370
- 7 Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie zur Begutachtung der Silikose. Pneumologie. 2005; 59 549-553
- 8 Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit .Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2003. Berlin: BMWA 2005
- 9 Baur X. Auswirkungen der Belastungen unter Tage im Steinkohlenbergbau auf die Lunge. Pneumologie. 2004; 58 107-115
X. Baur
Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin · Universität Hamburg
Seewartenstr. 10
20459 Hamburg
eMail: baur@uke.uni-hamburg.de