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DOI: 10.1055/s-2005-865112
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Schmerz
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
04. März 2005 (online)
Im Jahr 2003 wurden erste Ergebnisse der „Pain in Europe”-Studie veröffentlicht, die auf der Befragung von mehr als 46000 Personen europaweit basiert und damit die bislang wohl größte Studie dieser Art in Europa darstellt. Ungefähr jeder fünfte Erwachsene in Europa ist von chronischen Schmerzen betroffen. Ähnliche Zahlen liegen für USA und Australien vor. Bei Kindern und Jugendlichen geht man von einer Prävalenz chronischer Schmerzen von 10-20 % aus. Chronischer Schmerz ist damit eines der größten Gesundheitsprobleme. Chronische Schmerzen verursachen nicht nur erhebliches persönliches Leid beispielsweise aufgrund eingeschränkter Leistungsfähigkeit bis hin zur Arbeitsunfähigkeit, emotionale Probleme, den Verlust sozialer Kontakte, Schlafstörungen und eine verminderte Lebensqualität. Chronische Schmerzen sind außerdem mit enormen sozioökonomischen Kosten verbunden. Die „Pain in Europe”-Studie schätzt, dass jährlich ca. 500 Millionen Arbeitstage wegen chronischer Schmerzen verloren gehen. Eine angemessene Schmerzdiagnose und Schmerztherapie stellen nach wie vor eine große Herausforderung dar. Eine Voraussetzung hierfür ist eine genaue Kenntnis, wodurch, wann und bei wem ein ursprünglich akuter Schmerz seine Warn- und Schutzfunktion verliert und selbst zum Problem wird. Sowohl aus grundlagenwissenschaftlicher wie auch klinischer Sicht ist hierbei in den letzten Jahren das sogenannte „Schmerzgedächtnis” in den Mittelpunkt gerückt. Unter Schmerzgedächtnis versteht man die erhöhte Empfindlichkeit des schmerzverarbeitenden Systems, die zunächst durch akute Schmerzreize ausgelöst wird, diese jedoch überdauert. Das vorliegende Schwerpunktheft „Schmerz” widmet sich gezielt dem Thema Schmerzgedächtnis und seinen neurobiologischen, aber auch psychologischen Grundlagen und Mechanismen sowie den daraus abzuleitenden therapeutischen Implikationen.
Im ersten Beitrag beschreibt und erklärt Jürgen Sandkühler aus neurophysiologischer Perspektive die wichtigsten neurobiologischen Mechanismen, die dem Schmerzgedächtnis zugrunde liegen, und diskutiert Implikationen insbesondere für die pharmakologische Schmerztherapie. Als Wegweiser bekommt der Leser kurze Definitionen zentraler, auf das Schmerzgedächtnis bezogener Begriffe an die Hand.
Caroline Köppe und Herta Flor geben im zweiten Beitrag aus klinisch-neurowissenschaftlicher Sicht einen umfassenden Überblick, mit welchen neuronalen Veränderungen auf kortikaler Ebene chronische Schmerzzustände einhergehen und welche Bedeutung Aufmerksamkeitsprozesse hierbei haben. Als Modell dienen dabei vor allem Phantomschmerzen. Außerdem wird anhand empirischer Befunde belegt, dass Verhaltensänderungen, wie sie z.B. bei Verhaltenstrainings angestrebt und erzielt werden, mit einer Rückbildung bzw. Löschung des Schmerzgedächtnisses einhergehen.
Im dritten Beitrag legen Dieter Kleinböhl und Kollegen dar, wie und warum das subjektive Schmerzerleben, das in der Regel den Ausgangspunkt für jede schmerzdiagnostische und schmerztherapeutische Maßnahme bildet, mit der dem Schmerzgedächtnis zugrunde liegenden neuronalen Plastizität in Zusammenhang steht. Außerdem wird aufgezeigt, welche Rolle Lernerfahrungen im Alltag und insbesondere die erlernte Angst vor Schmerz für die Chronifizierung von Schmerzen spielen.
Monika Hasenbring und Bernhard Klasen fassen im vierten Beitrag zusammen, welchen Einfluss psychosoziale Faktoren wie beispielsweise die emotionale Befindlichkeit, Belastungen, aber auch bestimmte, eher ungünstige Schmerzbewältigungsstrategien auf die Entwicklung eines chronischen Schmerzproblems haben. Eine Veränderung solcher psychosozialer Risikofaktoren könnte sich, wie die von den Autoren berichteten Befunde nahe legen, als ein vielversprechender Ansatz in der Prävention chronischen Schmerzes erweisen.
Im fünften Beitrag gibt Birgit Kröner-Herwig einen umfassenden Überblick zum Hintergrund, der Entwicklung und der Effektivität psychologischer Schmerztherapie. Aus der Perspektive eines evidenz-basierten therapeutischen Vorgehens liegt der Schwerpunkt hierbei auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen, die anhand der Ergebnisse verschiedener Meta-Analysen auch mit pharmakotherapeutischen Maßnahmen hinsichtlich ihrer Effektivität verglichen werden.
Alle Beiträge zusammengenommen weisen in eindrucksvoller und facettenreicher Manier nach, welche herausragende Bedeutung dem Schmerzgedächtnis nicht nur für ein besseres Verständnis der Entstehung von chronischen Schmerzen, sondern auch für die Optimierung und Neuentwicklung schmerztherapeutischer Maßnahmen zukommt.