Gesundheitswesen 2005; 67 - VF_P47
DOI: 10.1055/s-2005-920735

Dicke Kinder

C Peter 1
  • 1Ohne Angabe

Hintergrund/Ziele und Forschungsfragen: Anhand einer qualitativen Verlaufsstudie wurden dicke Kinder in ihrer präadolezenten Phase über mehrere Jahre begleitet und die Symptomatik der Dickleibigkeit beobachtet. Diese Beobachtungen wurden mit der Analyse der gesamten Krankheitsgeschichte der Kinder, mit der Familiengeschichte und mit den elterlichen Erklärungsversuchen zur gesundheitlichen Problematik ihrer Kinder ergänzt. Mit diesem komplexen Setting konnte umfassend die Patienten- bzw. Betroffenenperspektive erhoben werden. Parallel befanden sich die Kinder in pädiatrischer Begleitung, zu der eine kooperative Verbindung bestand. Material und Methoden: Im Fokus des Forschungsinteresses stand die Überprüfung der These der Dickleibigkeit als Übergangsphänomen der adoleszenten Entwicklung, die besonders in kindertherapeutischen Kreisen vertreten ist. Unter zu Hilfenahme von familiensoziologischen Erklärungsansätzen wurden die Einzelverläufe aufwändig rekonstruktiert. Es konnten sowohl grundlegende Erkenntnisse zur Sozialisation des Leibes als auch konkret zur Entwicklungsdynamik der Dickleibigkeit/Adipositas herausgearbeitet werden. Ergebnis: Im Ergebnis wurden drei Phänomen- bzw. Symptomverläufe gefunden: Neben der Möglichkeit der Spontanheilung konnte der Typus des krankheitswertigen Symptomverlaufs, der eine Behandlungsnotwendigkeit nach sich ziehen sollte, und – als dritte Verlaufsform – die einer genuin „dicken“ Leibgestalt rekonstruiert werden: (I) Der genuine „dicke“ Leiblichkeitsentwurf geht ohne nennenswerte pathologische Nebenerscheinungen (laut Krankenakte) einher. (II) Die Behandlung der krankheitswertigen Verlaufsformen sollte neben der ärztlichen Behandlung vor allem eine psychotherapeutische Begleitung der Adoleszenten mit einschließen, da Abweichungen der sozialisatorischen Interaktionsstrukturen in der Familie zu psychodynamische Komplikationen der Ablösung des Kindes aus der Herkunftsfamilie und zur leiblichen Reaktionsbildung geführt haben. Schlussfolgerung und Diskussion: Als Konsequenzen für die Behandlungs- und Versorgungspraxis sind diese Ergebnisse wichtig, weil sie (I) zu einem differenzierteren Assessment auffordern, dass die familienstrukturellen und -dynamischen Konstellationen mit einbeziehen. (II) Jenseits eingeschliffener Definitionsroutinen bieten sich für die Professionellen neue Deutungsmöglichkeiten des Symptomkomplexes an, nämlich den Zusammenhang leibliche Symptomatik und psychosoziale Komplikationen (wieder) in den Blick zu nehmen. (III) Neben diesem Aufklärungsbedarf für die Professionellen ist es aufgrund der komplexen Problematik angebracht, die Behandlungs- und Versorgung multiprofessionell zu organisieren. (IV) Es ist offensichtlich geworden, dass die Behandlungs- und Versorgungspraxis für dicke Kinder und ihre Angehörigen unzureichend ist, was sich in der niedrigen Erfolgsrate widerspiegelt, da es weder der Problematik der Betroffenenen als auch der gesundheitlichen Problemlage gerecht wird. Transparenz und etablierte Versorgungspfade fehlen bisher noch im Bereich der Behandlung und Versorgung dicker Kinder.