ZFA (Stuttgart) 2006; 82(4): 145
DOI: 10.1055/s-2006-933393
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Weniger ist oft mehr

S. Dunkelberg1
  • 1Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Further Information

Publication History

Publication Date:
10 April 2006 (online)

Während meines Medizinstudiums ging es in erster Linie darum, was man tun kann. Während der Weiterbildung lernte ich, was man wann und wie genau tun soll. Und nun befasse ich mich vor allem damit, was man besser nicht tun sollte. Möglicherweise handelt es sich um ein Phänomen der individuellen ärztlichen Entwicklung, in der zunehmende Erfahrung vorsichtiger werden lässt und zunehmende Sicherheit es erleichtert, dem Handlungsdruck zu widerstehen.

Ich glaube aber, dass diese Entwicklung nicht nur mich persönlich, sondern darüber die gesamte Medizin betrifft. Lange Zeit produzierte der medizinische Fortschritt immer neue, verfeinerte oder verbesserte therapeutische oder diagnostische Optionen. Nun scheinen wir in einer Zeit zu leben, in der das kritische Hinterfragen neuer und bewährter Verfahren, oft mit dem Ergebnis deren Verzicht anzuraten, im Vordergrund vieler Forschungsvorhaben und Betrachtungen steht. Ganz sicher wirkt der Kostendruck im Gesundheitswesen synergistisch bezüglich der Umsetzung solcher Erkenntnisse. Doch selbst ohne Bonus-Malus-Regelung, die zusätzliches Konfliktpotenzial mit dem Patienten schaffen, ist das Weglassen nicht immer leicht. Sind wir es doch gewohnt, dem Patienten neben Zuwendung, Verständnis und Optimismus etwas Konkretes mitzugeben. Fällt es uns schwer, unser Therapiearsenal abzubauen, zu entmisten, uns zu trennen, mit (vermeintlich) leeren Händen dazustehen.

Helfen kann da konkretes Wissen in Bezug auf den fehlenden Nachweis des Nutzens, wie M. Scherer und M. M. Kochen ihn für das Fundusimaging als kardiovaskuläre Screeningmethode erläutern. Der Beitrag von W. Reininghaus und P. Engeser hilft bei der Entscheidung, auf eine enterale Ernährung zu verzichten, und ist auch jenen zu empfehlen, die keine CME-Punkte über diesen Weg erwerben wollen. Die Autoren stellen nicht nur die Kontraindikationen des Verfahrens dar, sondern auch wie man eine PEG-Sonde unaufwändig selbst entfernt. P. Engeser u. Mitarbeiter beschreiben darüber hinaus das Spannungsfeld von hochwirksamen, aber teuren und nebenwirkungsträchtigen Medikamenten bei der Psoriasis und erinnern an bewährte und preiswerte Alternativen. Schließlich erneuert K. Peters den Appell, Antibiotika im Sinne von „Primum non nocere” möglichst sparsam und zielgerecht zu verordnen. Der gesellschaftliche Schaden einer Ausbreitung von multiresistenten Keimen als Folge unkritischer Verordnungen geht in diesem Fall weit über einen möglichen individuellen Schaden hinaus.

Besinnen wir uns also auf die alten Weisheiten, hier in Worte gefasst von Baltasar Gracián y Morales (1601-1658, spanischer Jesuit):

„Der Arzt beherrsche gleich viel Wissenschaft zum Nichtverschreiben wie zum Verschreiben, und oft besteht die Kunst gerade in Nichtanwendung der Mittel.”

Viel Freude beim Lesen und beim Verzicht auf Unnötiges.

Ihre Sandra Dunkelberg

Dr. med. Sandra Dunkelberg

Fachärztin für Allgemeinmedizin

Institut für Allgemeinmedizin

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Email: dunkelbe@uke.uni-hamburg.de