ZFA (Stuttgart) 2006; 82(11): 479-485
DOI: 10.1055/s-2006-942296
Kommentar/Meinung

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

DMP - Notwendigkeit zur Verbesserung der Versorgung oder Bedrohung hausärztlicher Arbeitsweise

Disease Management Programm - Necessity to Improve Health Care or Threat to the General Practitioners' ApproachN. Schmacke1
  • 1Universität Bremen, Arbeits- und Koordinierungsstelle Gesundheitsversorgungsforschung, Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften
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Publication Date:
21 November 2006 (online)

Die Vorgeschichte der deutschen DMP: eine persönliche Erinnerung

Bis September 2003 habe ich als Leiter des Stabsbereichs Medizin des AOK-Bundesverbandes für die Spitzenverbände der Krankenkassen an der Entwicklung der bundesdeutschen DMP auf dem Boden der RSAV entscheidend mitgewirkt. Meine Einschätzung ist, dass es mir ohne die Entschlossenheit des damaligen Bundesausschussvorsitzenden, Karl Jung, die gesetzlichen Vorgaben so zeitnah wie möglich umzusetzen, als erstem Vorsitzenden des DMP-Ausschusses nicht möglich gewesen wäre, gegen den Widerstand starker Kräfte in der Ärzteschaft die ersten DMP-Texte im zuständigen Koordinierungsausschuss zur Verabschiedung zu bringen. Zweitens sehe ich es so, dass es erstmals in der Geschichte der bundesdeutschen Gesundheitspolitik die Krankenkassen waren, die eine Reform der unmittelbaren medizinischen Versorgung aktiv vorangetrieben haben. Dabei stützten sie sich methodisch-inhaltlich auf die viel zitierten so genannten Sawicki-Papiere [1] und fanden darüber hinaus Unterstützung bei prominenten wissenschaftlichen Vertretern der deutschen Allgemeinmedizin [2].

Die Bundesärztekammer fand während der gesamten Arbeit des Koordinierungsausschusses nicht zu einer konstruktiven Rolle, sie wollte diese Reform bis zuletzt nicht mittragen. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft tat sich sehr schwer, den Prozess mitzugestalten. Dies war im Falle der DMP Diabetes mellitus, Asthma bronchiale, COPD und Koronare Herzkrankheit auch insofern logisch, als die Weichen für diese DMP auf Hausarztzentrierung gestellt waren. Das Brustkrebs-DMP wurde demgegenüber von allen Seiten als ein politisch gewolltes Reformwerk verstanden; ich komme am Ende meines Vortrags aber hierauf noch einmal zurück.

Die RSAV-DMP (= an den Risiko-Struktur-Ausgleich der Krankenkassen gebundene DMPs) sind durch folgende international übliche Dimensionen gekennzeichnet: Verwendung evidenzbasierter Leitlinien, Strukturierung der Versorgungsabläufe und Dokumentationspflicht. Andere wichtige Dimensionen sind aus internationaler Perspektive eher untypisch: dies betrifft die dezidierte Hausarztzentrierung, die flächendeckende Einführung über de facto uniforme Verträge zwischen Kassen und Ärzteschaft (überwiegend KVn) und eben die Bindung an den Risikostrukturausgleich.

Die Einführung der DMP wurde von vielen Vertragsärzten mit großer Skepsis bis Ablehnung begleitet. Die wesentlichen Kritikpunkte lauten:

DMP böten keine Qualitätsvorteile gegenüber der Regelversorgung, v. a. bezüglich der Strukturverträge zum Diabetes mellitus. DMP bergen die Gefahr einer Billigmedizin, weil sie die Ärzte in ein Behandlungsraster zwängen, das dem Stand der ärztlichen Kunst nicht entspreche. DMP würden der häufig anzutreffenden Multimorbidität der Patienten nicht gerecht. DMP dienten primär den Kassen, nicht den Patienten und nicht der ökonomischen Gesamtsituation der Vertragsärzte. Die erforderliche Bürokratie übersteige das Maß des Notwendigen bei weitem und raube Zeit für die Patientenversorgung.

Die Kritik kulminierte bei der Bundesärztekammer in der Feststellung, die DMP leiteten endgültig eine patientenfeindliche Phase der rationierenden Staatsmedizin ein und stellten die Rolle der Arztprofession qua inhaltlicher und formaler Reglementierung grundsätzlich infrage [3]. Deutschland, so wurde häufig gesagt, folge der unseligen und obsoleten Managed-Care-Ära der USA.

Literatur

  • 1 Kaiser T, Krones R, Sawicki P T. Arbeitsgruppe Praktische evidenzbasierte Medizin .Beispielhaft für Typ-2-Diabetes. St. Franziskus Hospital, Köln, und DIeM - Institut für evidenzbasierte Medizin, Köln. Entscheidungsgrundlage zur evidenzbasierten Diagnostik und Therapie bei Disease Management Programmen für Diabetes mellitus Typ 2. 2., überarbeitete Version (Oktober 2003), 23 S., www.di-em.de/publikationen.php (geprüft 29.9.2006)
  • 2 Beyer M, Gensichen J, Szecsenyi J. et al . Wirksamkeit von Disease-Management-Programmen in Deutschland - Probleme der medizinischen Evaluationsforschung anhand eines Studienprotokolls.  Z ärztl Fortb Qualitätssich. 2006;  100 355-364
  • 3 Rabbata S. Disease Management: Hoppe kündigt „Nationales Leitlinienprogramm” an. In www.aerzte-blatt.de/V4/archiv/artikel.asp?id=33526 (geprüft 29.9.2006)
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  • 10 Mechanic D. The Managed Care Backlash: Perceptions and Rhetoric in Health Care Policy and the Potenzial for Health Care Reform.  The Milbank Quarterly. 2001;  79 35-54
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  • 12 Future of Family Medicine Project Leadership Committee . The future of family medicine: A collaborative project of the familiy medicine community.  Annals of Familiy Medicine. 2004;  2 S3-S32
  • 13 Rothman A A, Wagner E H. Chronic illness management: What is the role of primary care?.  Annals of Internal Medicine. 2003;  138 256-262
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  • 15 Beyer M, Gensichen J, Szecsenyi J. et al . Wirksamkeit von Disease-Management-Programmen in Deutschland - Probleme der medizinischen Evaluationsforschung anhand eines Studienprotokolls.  Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualitätssicherung. 2006;  100 355-364
  • 16 Carter Y H, Shaw S, Macfarlane F. Primary Care Research Team Assessment (PCRTA): deveolopment and evaluation.  Occasional Papers of the Royal College of General Practitioners. 2002;  81 iii-vi 1-71

1 Durchgeführt worden sind Interviews mit Ärzten und Ärztinnen in unterschiedlichen Regionen Deutschlands (Großstadt, Stadt, Land).

Prof. Dr. med. N. Schmacke

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