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DOI: 10.1055/s-2006-949594
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Die Behandlung der therapierefraktären Depression mit Elektrostimulation
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
08. August 2006 (online)
Unter der Überschrift „Zapping the blues” brachte kürzlich der Economist eine Meldung über die Wirksamkeit der Elektrostimulation des N. Vagus zur Behandlung der therapierefraktären Depression [1]. Diese Meldung wurde rasch von der medizinischen Trivialliteratur aufgegriffen und wird von da aus den Weg in die hiesigen Medien gehen. Nervus-Vagus-Stimulation wurde ursprünglich zur Behandlung von Epilepsien entwickelt und mit wechselnden Erfolgen eingesetzt. Die Beobachtung einer deutlich verbesserten Stimmung bei Epilepsiepatienten führte letztlich zu Experimenten an Depressiven. Das Stimulationsgerät wird wie ein Herzschrittmacher implantiert und die Elektrode im Halsbereich nach Präparation des N. Vagus eingesetzt. Im Regelfall wird ein elektrischer Impuls von 30 Sekunden Dauer alle fünf Minuten benötigt. Die ganze Prozedur dauert in Schnitt nicht länger als 45 Minuten und kann ambulant erfolgen. Wie bei der Epilepsie wird der Mechanismus, wie der therapeutische Effekt der VNS bei der Depression zustande kommt, derzeit nicht verstanden. Man nimmt an, dass er über eine Innervation des Nucleus tractus solitarius und sekundärer Projektionen zum Limbischen System und kortikaler Strukturen zustande kommt, auch unter Einbezug des Hirnstamms, des serotonergen Nucleus raphe und noradrenergen Locus coeruleus [2].
Die aktuelle Meldung des Economist bezieht sich auf einen Vortrag von Charles Conway von der Saint Louis University in Missouri, der kürzlich auf dem Kongress der APA (American Psychiatric Association) von einer Follow-up-Studie berichtete. Nach Dr. Conway setzen objektivierbare Effekte erst ungefähr drei Monate nach Implantation ein, was aufgrund von Studien mit Positronen-Emissions-Tomographien nachgewiesen wurde, die ähnliche Veränderungen der Hirnaktivität nachwiesen wie unter antidepressiver Pharmakotherapie. Die Veränderungen entwickeln sich noch bis zu 21 Monate nach Implantation. Die Meldung, dass 70 % der Patienten, die ein Jahr nach Implantation eines Nervus-Vagus-Stimulationsgeräts eine Response zeigten und sich auch im zweiten Jahr besser fühlten, suggeriert einen immensen Therapieerfolg. Tatsächlich ist die Basis der publizierten Evidenz zur klinischen Wirksamkeit erstaunlich dünn. Unter der Suchstrategie: (Vagus nerve stimulation depression) AND (randomized controlled trial [Publication Type] OR (randomized [Title/Abstract] AND controlled [Title/Abstract] AND trial [Title/Abstract])) wurde in Pubmed überhaupt nur eine hochwertige, klinische Studie bei Depressiven gefunden. So sind in einem zehn Wochen dauernden, randomisierten, kontrollierten Versuch adjuvante Vagus-Nerv-Stimulation (VNS) mit einer Scheinbehandlung bei 235 ambulant behandelten Patienten mit einer mittelschweren depressiven Episode verglichen worden. Der therapeutische Erfolg (Response) war als eine (≥ 50 %ige Besserung auf der 24-Item Hamilton Rating Scale for Depression definiert. Alle Patienten hatten zuvor zwei bis sechs verschiedene Antidepressiva erfolglos ausprobiert. Von 222 auswertbaren Teilnehmern hatten 15,2 % der aktiven Gruppe (n = 112) und 10,0 % der Plazebo-Gruppe (n = 110) eine Besserung aufgewiesen, der Unterschied war statistisch nicht signifikant. Auf einer anderen, mitgelaufenen Skala ließ sich dann doch noch etwas Signifikantes finden [3].
Gemäß den Spielregeln und Mechanismen der modernen Gesundheitsindustrie wird es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen mit dem Verfahren beschäftigen muss. Die Zulassung der Methode in den USA durch die FDA (Food and Drug Administration) für die Behandlung einer Depression, die auf Pharmakotherapie und Psychotherapie nicht anspricht, ist bereits im Jahr 2005 erfolgt. So wird der Druck auf die Ärzteschaft bald größer werden, sich mit der VNS zu beschäftigen. Internetkundige Patienten und Angehörige können sich schon jetzt ein Bild von der Methode machen, so ist bereits jetzt ein Patientenratgeber im Internet verfügbar und als Buch zu kaufen. Unter dem Titel „Raus aus dem schwarzen Loch: Der Patientenratgeber für Nervus-Vagus-Stimulation und Depression” können Betroffene die Segnungen der Methode nachvollziehen [4]. Dort steht auch, dass diese Methode die einzig wirksame Therapie der Langzeitbehandlung sei.
Wie auch immer sich die Zukunft der VNS herausstellen wird, es wäre zu wünschen gewesen, dass zuerst eine saubere wissenschaftliche Analyse und dann erst die Information der Öffentlichkeit erfolgt wäre. Die so genannte Schulmedizin unterscheidet sich in ihren Vermarktungsstrategien immer weniger von den alternativen Heilern: der Unterschied zwischen Heilkunst und Quacksalberei schwindet. Man muss immer kritischer registrieren, dass Politisches gewünscht erscheint, Wissenschaft wird nur noch in Impactfaktoren und Drittmitteldollars gemessen. Gerade „Technologisches” übt eine hohe Faszination auf diejenigen aus, die über Finanzierung und Erfolg von Universitäten entscheiden. Da darf man nur hoffen, dass am Ende noch ein Hausarzt gefragt wird, ein Mensch, der in seiner Haltung etwas konservativ ist - weniger über Zahlen, aber mehr über seinen Patienten Bescheid weiß - um mit gesundem Menschenverstand und fundierter Erfahrung seinen Patienten zu beraten.
Literatur
- 1 Economist print edition, Jun 1st 2006. Zapping the blues. The rebirth of electric-shock treatment. www.economist.com/science/displayStory.cfm?story_id=7001585
- 2 Nemeroff CB, Mayberg HS, Krahl SE. et al. . VNS Therapy in treatment-resistant depression: clinical evidence and putative neurobiological mechanisms. Neuropsychopharmacology. 2006; 7 1345-1355
- 3 Rush AJ, Marangell LB, Sackeim HA. et al. . Vagus nerve stimulation for treatment-resistant depression: a randomized, controlled acute phase trial. Biol Psychiatry. 2005; 58 347-354
- 4 Out of the Black Hole. The Patient's Guide to Vagus Nerve Stimulation and Depression. www.vagusnervestimulation.com/book