psychoneuro 2006; 32(10): 469-470
DOI: 10.1055/s-2006-956555
Im Gespräch

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview mit Prof. Paul J. Lewi, ehemaliger Vizepräsident Janssen Pharmaceutica - Der Mensch steht im Mittelpunkt

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Publication Date:
09 November 2006 (online)

 

Prof. Paul J. Levy

Die Entwicklung eines neuen Arzneimittels dauert durchschnittlich zehn Jahre. Von etwa 100000 gefundenen neuen Molekülen wird nur ein Molekül bis zur Marktreife entwickelt. Janssen-Cilag ist es gelungen, bis heute mehr als 80 neue Arzneimittel auf den Markt zu bringen, beispielsweise Haloperidol und Risperidon, Meilensteine der Psychopharmakoforschung. Janssen-Cilag zählt heute zu den Marktführern in Psychiatrie und Neurologie sowie in der Anästhesie und Schmerztherapie, Mykologie und Nephrologie. Im Mutterunternehmen Johnson & Johnson arbeiten 115000 Mitarbeiter in 57 Ländern und 200 Niederlassungen. Weltweit investiert das Unternehmen 3,6 Milliarden US Dollar jährlich in die Forschung, d.h. mehr als 16% des Pharmaumsatzes. Die Entwicklung der Neuroleptika ist eng mit dem Namen Janssen verknüpft. Dr. Paul Janssen entdeckte 1958 mit Haloperidol den ersten Vertreter aus der Reihe der Butyrophenone. Seitdem wurden mehr als 5000 Strukturanaloga untersucht. Janssen, der 2003 verstarb, gilt als eine der bedeutendsten Forscherpersönlichkeiten. Wir sprachen mit Prof. Dr. Paul J. Lewi, ehemaliger Vizepräsident Janssen Pharmaceutica, über seine Erfahrungen und den Erfolg des Unternehmens.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Lewi, seit Anfang der 60er Jahre sind Sie bei Janssen Pharmaceutica in Beerse (Belgien) beschäftigt. Sie haben lange mit Dr. Paul Janssen, dem Begründer von Janssen Pharmaceutica zusammengearbeitet. Wodurch waren diese Pionierjahre besonders gekennzeichnet?

Lewi: Am Anfang wurde noch diskutiert, ob die Psychosen in Europa anders sind als in Amerika. Erst nach einigen Jahren hat man dann eingesehen, dass die Erkrankung in beiden Erdteilen tatsächlich identisch ist.

In den 50er Jahren wurde dann die antipsychotische Wirkung des Phenothiazins Chlorpromazin entdeckt. Allerdings war die Substanz nicht sehr spezifisch für die Dopaminrezeptoren.

Auf der Suche nach spezifischeren Neuroleptika erkannte Paul Janssen dann 1958 mit Haloperidol den ersten Vertreter aus der Reihe der Butyrophenone.

Diese neue Klasse von Substanzen, die sich von antispastisch wirksamen Morphinderivaten ableitet, greift spezifisch an Dopaminrezeptoren. Wir konnten dann in der Folge eine ganze Reihe weiterer Neuroleptika entwickeln, bisher insgesamt 16.

Ist es nicht ungewöhnlich, mehrere Neuroleptika nacheinander zu entwickeln?

Lewi: Janssen hatte die Idee, dass man, wenn man etwas gefunden hatte, dann nicht aufgeben darf. Das heißt, wenn man eine Substanz hat und dann aus Angst, dass sich die Substanzen vielleicht gegenseitig in ihrer Entwicklung behindern, die Suche nach neuen Medikamenten aufgibt, dann ist das der falsche Weg.

Substanzen sind wie Kinder, jede hat unterschiedliche Eigenschaften und Fähigkeiten. Janssen hat seine Mitarbeiter daher immer wieder aufgefordert, weiter zu suchen.

Neben der Entwicklung neuer Leitstrukturen gibt es bei Janssen-Cilag auch viele Konzepte hinsichtlich der Anwendung innovativer Arzneiformen (z.B. OROS, Microspheres). Können diese pharmazeutisch-galenischen Weiterentwicklungen Ihrer Meinung nach die Behandlungen von schweren Erkrankungen wie z.B. die der Schizophrenie verändern und Therapiestrategien nachhaltig beeinflussen?

Lewi: Auf jeden Fall, die OROS-Technologie ist sehr wichtig. Mit dem OROS-System (osmotic controlled release oral delivery system) können Medikamente durch eine semipermeable Kapselwand aufgrund des steigenden osmotischen Drucks gezielt langsam freigesetzt werden, so dass eine lang anhaltende Wirkung erzielt wird.

Diese Technik wird jetzt auch für das neue Neuroleptikum Paliperidon in unserer Pipeline untersucht. Janssen war immer sehr begeistert von diesen Entwicklungen.

Denken Sie, dass es in Zukunft, ähnlich wie bei Haloperidol, noch zu einem Quantensprung in der Behandlung schizophrener Störungen kommen kann? Oder denken Sie, dass ein solcher Quantensprung über die galenische Entwicklung möglich ist?

Lewi: Beides. Man kann natürlich die Möglichkeiten der Substanzen, die bereits auf dem Markt sind, über neue Galeniken weiter verbessern, wie bei Risperidon mit der ersten atypischen Depotformulierung Risperdal® Consta®. Aber auch die Entdeckung neuer Substanzen ist möglich. Janssen glaubte daran, dass es noch viel zu entdecken wird. Beispielsweise steht uns heute die Molekularbiologie zur Verfügung.

Es gibt also noch viel zu tun, es gibt neue Targets, die man entwickeln kann. Auch die klassische Pharmakologie ist noch nicht völlig ausgereizt. Es gibt ein englisches Sprichwort "Die niedrig hängenden Früchte werden zuerst geerntet."

In den folgenden Jahren brachte Janssen Pharmaceutica viele weitere wirksame Substanzen auf den Markt. Wie begründen Sie den Forschungserfolg von Janssen Pharmaceutica?

Lewi: Das besondere war das Konzept von Janssen, er hat den Menschen in den Mittelpunkt gestellt. Janssen war immer sehr an den Menschen interessiert, nicht an Computern oder anderen Maschinen. Was er am meisten schätzte, waren Mut, Fähigkeiten und Kompetenzen, nicht aufzugeben. Er hat seinen Mitarbeitern viel Freiheit gegeben, aber gleichzeitig auch immer wieder stark gefordert. Janssen hat immer wieder gefragt "Warum?" Und so hat er die Menschen ausgebildet. Auf diese einfache Weise kann man Forschung optimieren. Das Geheimnis ist, dass man den Forschern die Möglichkeiten zur Verfügung stellt, das zu tun, das sie glauben, tun zu müssen. Man darf ihnen nicht nur Aufgaben stellen, die sie erfüllen müssen. Janssen hat es übernommen, seine Mitarbeiter auf produktive Weise ständig herauszufordern.

Wenn jemand mit einer neuen Idee zu ihm kam, meinte er zunächst "Das glaube ich nicht, zeigen sie es mir. Wenn Sie sich dafür einsetzen wollen und mich überzeugen können, dann machen Sie es. Wir werden sehen, wer recht hat."

Janssen sagte immer, dass eine große Ähnlichkeit zwischen Musik und Forschung bestehe. Die Leiter der Forschung seien eigentlich wie ein Orchesterleiter. Natürlich wollen sie zeigen, was möglich ist. Man muss die einzelnen Musiker aber auch synchronisieren, so dass sie miteinander in eine Art Resonanz kommen. Dabei darf man aber nicht mit hohem Druck arbeiten. Man muss die richtige Wellenlänge treffen, dann verstärken sich die gegenseitigen Anstrengungen. Janssen konnte die Leute in Resonanz bringen, so dass sie gemeinsam etwas Neues erzeugen konnten, das individuell nicht möglich ist.

Viele Entwicklungen von Janssen fallen in psychiatrische Indikationen ...

Lewi: Ein besonderes Interesse von Janssen galt der Psychiatrie. Bis in seine letzten Tagen war er an den Menschen, Patienten und psychischen Krankheiten interessiert. Und er hat immer gefragt, was ist Schizophrenie? Ist es eine Krankheit oder eine Gruppe von Krankheiten? Ist Schizophrenie bei jedem gleich?

Ein anderes Thema war Alzheimer. Wie kann man Alzheimer diagnostizieren? Was hat der Arzt Alois Alzheimer tatsächlich in seinem Mikroskop gesehen? Er war ihm sehr wichtig und er hat seine Mitarbeiter immer wieder dazu aufgefordert, alles kritisch zu hinterfragen. Er glaubte fest, dass man mit Medikamenten einem Menschen helfen konnte. Seiner Meinung nach waren viele psychische Krankheiten metabolische Störungen im Gehirn. Man kann sie nicht heilen, aber man kann das Leben lebenswert machen. Janssen war dabei sehr populär. Viele Menschen spürten, dass er die Wahrheit sagte. So meinte er auch offen, dass einige Medikamente, die auf dem Markt sind, nur Geld kosten aber nicht wirksam sind. Andererseits trat er dafür ein, den Forschern auch die Freiheit zu geben, neue Medikamente zu entwickeln. Dies kann man nicht aus Marketing- oder politischen Gründen einfach anordnen. Auf diese Weise haben wir große revolutionäre Entdeckungen gemacht in der Psychiatrie, aber auch z.B. in der HIV-Forschung.

1995 gründeten Sie zusammen mit Dr. Paul Janssen das "Center for Molecular Design". Ist dies Ihrer Meinung nach der Weg der Zukunft in der weiteren Arzneistoffentwicklung oder welche weiteren Entwicklungen sehen Sie?

Lewi: Viele sagen, früher war alles viel einfacher, die Entwicklung von Medkamenten wesentlich leichter und günstiger. Janssen war nicht davon überzeugt, dass Medikamente nur mit großem Aufwand zu entwickeln seien. Die Menschen seien schließlich immer noch dieselben. So ließe sich mit einer kleinen Gruppe von Forschern sehr viel erreichen.

Wir haben dann vor einigen Jahren ein kleines Zentrum aufgebaut, das sich mit Molecular Modelling beschäftigte und eine ganze Reihe von Substanzen entwickelt hat, die es in die klinischen Studien geschafft haben. Mit einem klaren Konzept kann man mit einem kleinen Team und wenig Investionen tatsächlich viel erreichen.

Sehr geehrter Herr Prof. Lewi, besten Dank für das Gespräch!