Diabetologie und Stoffwechsel 2007; 2(2): 91-93
DOI: 10.1055/s-2007-960617
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Orale Antidiabetika - gestern, heute, morgen

Oral Antidiabetic Drugs - Yesterday, Today, TomorrowH. Mehnert1
  • 1Institut für Diabetesforschung, Krankenhaus Schwabing, München
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Publication Date:
22 March 2007 (online)

Die Entwicklung der ersten oralen Antidiabetika geht in die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts zurück: 1926 führten Frank, Nothmann und Wagner das Diguanidin Synthalin A in die Klinik ein und behandelten erfolgreich Patienten - wie wir heute wissen: Typ-2-Diabetiker. Die Blutzuckersenkung ging aber mit stärkeren gastrointestinalen Nebenwirkungen und - allerdings sehr fraglichen - Leberfunktionsstörungen einher, sodass die 1929 ebenfalls von deutschen Forschern (Slotta und Tscheche sowie Hesse und Taubmann) entwickelten Biguanide den Weg in Klinik und Praxis zunächst nicht fanden. Es ist aber bemerkenswert zu wissen, dass Synthalin A bis nach dem 2. Weltkrieg angeboten, allerdings wenig verwendet wurde.

In den 1930er-Jahren entdeckte der Deutsche Domagk den bakteriostatischen Effekt der Sulfonamide (erstes Präparat: Prontosil rubrum), und wenig später berichtete ein Spanier über leichte Hypoglykämien unter diesen natürlich primär nicht zur Blutzuckersenkung gedachten Präparaten. Entscheidend für die weitere Entwicklung war, dass ein zur Typhusbehandlung vorgesehenes Sulfonamid mit dem Kürzel IPDT 1941 von Janbon in Frankreich getestet wurde. Dabei kam es zu Todesfällen infolge schwerer Hypoglykämien, die der französische Autor richtig deutete. Sein Kollege, der Physiologe Loubatières, konnte feststellen, dass die Blutzuckersenkung - so das Tierexperiment - an einen noch funktionsfähigen Rest der Bauchspeicheldrüse gebunden war. Mit anderen Worten: Bei Patienten ohne nennenswerte Insulinproduktion, also z. B.: bei Typ-1-Diabetikern, war keine Blutzuckersenkung nach Gabe des Sulfonamidpräparates zu erwarten. Wohl auch durch die Kriegswirren bedingt, wurden die Untersuchungen der Franzosen weiten Kreisen nicht bekannt, die im Übrigen auch nicht die Konsequenz daraus zogen und den blutzuckersenkenden Effekt therapeutisch ausgenützt hätten. Dies taten dann erst im Jahr 1955 die deutschen Kliniker Franke und Fuchs, die bei der Behandlung von Infektionen mit einem anderen Sulfonamid, dem Carbutamid, wiederum Hypoglykämien feststellten und nun erstmals diese Substanz bei der Behandlung von Diabetikern einsetzten. In einer heute noch lesenswerten Arbeit von Bertram, Bendfeldt-Otto und Otto wurden die Kriterien für die Indikationsstellung der Sulfonamide präzise aufgezeigt: Vorschläge und Beschreibungen, die nach wie vor ihre Gültigkeit haben. Ein Jahr später wurde dann das besser verträgliche Tolbutamid - wiederum durch deutsche Autoren - getestet und in die Klinik eingeführt (Pfeiffer, Bänder et al.).

1957 griffen amerikanische Autoren (Pomeranze et al., Krall et al.) die alten deutschen Biguanidarbeiten mit Phenformin wieder auf. Im gleichen Jahr beschrieb der französische Autor Sterne die blutzuckersenkende Wirkung eines anderen Biguanids, des Metformin, das später große Karriere machen sollte. Buformin wurde von Mehnert und Seitz in die Klinik eingeführt, die im Übrigen im Jahr 1958 als erste eine Kombinationstherapie von Sulfonamiden, im engeren Sinne Sulfonylharnstoffen, und Biguaniden (im Wesentlichen Tolbutamid und Buformin) beschrieben. In den 70er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts kam es bei den Biguaniden zu einer unerfreulichen Entwicklung: Vor allem wegen der Missachtung von Kontraindikationen (Niereninsuffizienz) wurden vermehrt Laktazidosen beobachtet, die zum Verbot von Phenformin und Buformin führten. Metformin mit seiner wesentlich geringeren laktatbildenden Potenz blieb indessen - zunächst als „Stiefkind” - der oralen Diabetestherapie erhalten und sollte erst Jahre später ein triumphales Come-back erleben.

Es dauerte bis zum Jahr 1968, als mit Glibenclamid ein Sulfonylharnstoff der sog. zweiten Generation eingeführt wurde (Müller et al.). Diese Substanz ist bis heute weltweit stark verbreitet, weil sie von allen im Handel befindlichen Sulfonylharnstoffen den stärksten blutzuckersenkenden Effekt aufweist. Allerdings zeigten sich sehr bald neben diesen Möglichkeiten auch die Grenzen des Präparats, da es bei ungenügender Indikationsstellung oder falscher Einnahme durch den Patienten zu schweren, ja tödlichen Hypoglykämien führen kann (Gutsche, Scriba, Bachmann u. a.). Im gleichen Jahr, also 1968, beschrieb Puls die Glukosidaseinhibition im Darm durch bestimmte Stoffe, was schließlich 1990 zur Einführung von Acarbose in die Klinik führte. Dieser Glukosidasehemmer ist vor allem gegen die postprandiale Hyperglykämie gut wirksam und zeigte in der so genannten STOP-NIDDM-Studie interessante, aber sicherlich noch weiter zu überprüfende Einwirkungen auf Risikofaktoren der Makroangiopathie.

Im Jahr 1996 wurde dann der Sulfonylharnstoff der dritten Generation, Glimepirid, vorgestellt, das gegenüber Glibenclamid den Vorteil der geringeren - aber nicht fehlenden! - Hypoglykämiegefährdung der behandelten Patienten aufwies und im Wesentlichen nur einmal täglich verabreicht werden muss. Schon in den Jahren 1999 und 2000 wurden weitere interessante Stoffe entwickelt und in Klinik und Praxis eingeführt: Glinide und Glitazone. Die Glinide (Nateglinid und Repaglinid) haben in etwa den gleichen Wirkmechanismus wie Sulfonylharnstoffe, sind aber sehr rasch sowie kurz und energisch wirksam, sodass auch sie - vor den Mahlzeiten verabreicht - bevorzugt gegen die postprandiale Hyperglykämie eingesetzt werden können. Die Verträglichkeit ist gut, auch die Hypoglykämieneigung ist gering. Selbst der den Sulfonylharnstoffen gemeinsame unerwünschte Effekt der Gewichtszunahme der behandelten Patienten ist unter Gliniden weniger stark ausgeprägt.

Etwa gleichzeitig kam es zur Einführung der Glitazone, von denen das erste Präparat, Troglitazon, wegen schwerer Leberschäden bald wieder aus dem Handel genommen wurde. Zwei andere Substanzen - Rosiglitazon und Pioglitazon - hingegen machten ihren Weg und wiesen, wie Metaanalysen gezeigt haben, keinen leberschädigenden Effekt auf. Diese Substanzen wirken über nukleäre Rezeptoren und senken nicht nur über eine Abschwächung der Insulinresistenz den Blutzucker, sondern sind auch gegen gefäßschädigende Faktoren wirksam. So kommt es - wenn auch oft nur marginal - zur Reduzierung der Mikroalbuminurie, zum Absenken des Blutdrucks, zu einem günstigeren Lipidprofil, zum Endothelschutz und zur Beeinflussung inflammatorischer Parameter. Aus diesem Grund wurde eine Langzeitstudie, die so genannte Pro-Aktiv-Studie, aufgelegt, in der unter Pioglitazon in der Tat günstige Effekte im Hinblick auf die Makroangiopathie gezeigt werden konnten. Allerdings ließ sich bei dieser und bei anderen Studien nicht verkennen, dass - wenn auch in geringem Umfang - die Entstehung einer Herzinsuffizienz durch Glitazone gefördert werden kann. Aus diesem Grund ist der Einsatz dieser Substanzen, die als Nebenwirkungen Gewichtszunahme und Wassereinlagerungen aufweisen, bei Herzinsuffizienz nicht angezeigt.

Ende der 1990er-Jahre war die wegweisende UKPDS-Studie beendet worden, die unter anderem zeigte, dass eine Optimierung der Behandlung von Typ-2-Diabetikern Folgeschäden an den Gefäßen einzudämmen vermag. Der große Gewinner dieser Studie war das oben erwähnte Metformin, das gerade in Deutschland lange Zeit in unverantwortlicher Weise verteufelt worden war, sodass über viele Jahre diese Substanz relativ wenig eingesetzt wurde. Erst als in den USA nach der UKPDS-Studie der große Durchbruch erfolgte und Metformin zum meistverordneten Präparat geworden war, brachen die Dämme auch in Deutschland, sodass Metformin jetzt das am häufigsten verabreichte orale Antidiabetikum darstellt. In den Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft sowie in den DMPs ist Metformin zu Recht als „first-line-drug” beschrieben, wie im Übrigen leider auch Glibenclamid, das ja - wie erwähnt - kein ungefährliches Präparat ist.

In letzter Zeit wurden weitere interessante Studien mit Glitazonen vorgelegt, so 2006 die DREAM-Studie und die ADOPT-Studie. Beide Studien zeigten einen günstigen Effekt von Rosiglitazon: die eine Studie im Hinblick auf die Verzögerung oder Verhinderung der Manifestation des Typ-2-Diabetes aus dem prädiabetischen Stadium und die andere hinsichtlich der Langzeitwirkung, verglichen mit Glibenclamid und mit Metformin. Allerdings kamen in letzterer Studie bei Frauen vermehrt Frakturen zur Beobachtung. Ebenfalls 2006 kam Rimonabant auf den Markt, das an den Endocannabinoid-Rezeptoren hemmend wirksam ist und auf diese Weise den Appetit zügelt und die Magenentleerung verzögert. Darüber hinaus hat es aber metabolische Effekte, die dazu berechtigen, Rimonabant auch als orales Antidiabetikum zu bezeichnen: so wird die Lipogenese gebremst (mit allen günstigen Effekten auf Triglyzeride und HDL-Cholesterin), und außerdem wird die Sekretion von Adiponektin, dem einzigen „günstig” wirkenden Hormon der Fettzellen, angeregt. Auf diese Weise kann man metabolische, auch blutzuckersenkende sowie gefäßprotektive Wirkungen hervorrufen.

Jetzt, im Jahr 2007, hat die Zukunft der oralen Antidiabetika begonnen: neben Voruntersuchungen mit Substanzen, die z. B. die Glykogenolyse oder die Glukagonsekretion oder die renale Glukoserückresorption hemmen, wird das Geschehen sicherlich beherrscht durch die Einführung von so genannten DPP-IV-Inhibitoren; dabei wird Sitagliptin als erste Substanz in den Handel kommen. Hierbei handelt es sich um orale Antidiabetika, die sich die günstigen Stoffwechseleffekte von GLP-I zunutze machen, indem dessen Abbau im Organismus gehemmt wird. Bekanntlich ist ein solcher Effekt deswegen so wünschenswert, weil es auf diese Weise mit oraler Medikation gelingt, die sonst nur flüchtigen Wirkungen des Inkretins GLP-I längerdauernd nutzbar zu machen. Dieses Hormon, um dessen Erforschung sich vor allem Creutzfeldt und später seine Schüler Nauck, Gallwitz und Göke et al. verdient gemacht haben, wirkt im Organismus ja nur sehr kurz, da es rasch durch eine Dipeptidylpeptidase (DPP-IV) abgebaut wird. Dabei wären und sind die Wirkungen von GLP-I, das im Übrigen bei Typ-2-Diabetikern in geringerem Ausmaß als bei Normalpersonen sezerniert wird, für den Stoffwechsel wichtig. Durch die DPP-IV-Inhibitoren werden nützliche Inkretineffekte erhalten. So hat sich z. B. unter Sitagliptin zeigen lassen, dass es zu einer glukoseabhängigen Insulinsekretion kommt, d. h. dass dieser Stoff - ebenso wie Vildagliptin - nicht zu einer andauernden Sulfonylharnstoff-ähnlichen Stimulierung der Insulinsekretion, sondern lediglich zu einer bedarfsgerechten Ausschüttung des Hormons führt. Das bedeutet natürlich, dass eine Hypoglykämiegefahr praktisch nicht besteht und dass im Übrigen auch keine Gewichtszunahme - etwa im Vergleich zu den Sulfonylharnstoffen - stattfindet. Darüber hinaus wirkt diese Substanz aber nicht nur insulinotrop, sondern über die Bremsung der Glukagonsekretion und der konsekutiven Glukoneogenesehemmung auch „nicht-insulinotrop”. Die Unterscheidung zwischen insulinotropen Substanzen (Sulfonylharnstoffe, Glinide) und nicht-insulinotropen Stoffen (Acarbose, Metformin, Glitazone) hat sich ja bisher gut bewährt, wird aber jetzt gesprengt durch die DPP-IV-Inhibitoren, die gleichsam auf beiden Ebenen wirksam sind. Hinzu kommt, dass unter Sitagliptin im Tierversuch betazellprotektive, die Apoptose verhindernde Effekte gezeigt wurden, die sich auch - cum grano salis - über eine entsprechende Einwirkung auf den Proinsulin-Insulin-Quotienten und den HOMA BETA-Index auf den Menschen übertragen lassen (Bretzel). Dies wäre - wenn sich dies weiter verifizieren lässt - natürlich ein Fortschritt in der Behandlung mit oralen Antidiabetika, da Substanzen wie die DPP-IV-Inhibitoren nicht nur für die Möglichkeit zur bedarfsgerechten Insulinsekretions-Stimulierung, sondern auch für die Protektion der dafür verantwortlichen Betazellen sorgen würden.

Die Kombinationstherapie mit oralen Antidiabetika als Zweifach- oder Triple-Therapie ist im Übrigen das Gebot der Stunde, da es auf diese Weise gelingt, die Nebenwirkungen der Einzelsubstanzen durch geringere Dosierungen zu minimieren und den Haupteffekt durch die Addition verschiedener Mechanismen für die Blutzuckersenkung zu maximieren (Standl). Zur Kombinationstherapie zählt nicht zuletzt auch die gemeinsame Verabreichung mit Insulin, die in Deutschland vor Jahren exakt von Bachmann beschrieben wurde und die jetzt vor allem in der BOT (basal unterstützte orale Therapie) ihren Ausdruck findet (Janka u. a.). Alles in allem sind das günstige Aspekte im Hinblick auf den Einsatz von Tabletten. Dies hatte man über viele Jahrzehnte nach der Entdeckung des Insulins nicht für möglich gehalten; jetzt ist es Wirklichkeit geworden.

Dieses kurze Editorial sollte nur die wichtigsten Stationen bei der Entwicklung und Wirkung oraler Antidiabetika aufzeigen. Besonders erfreulich ist, dass bei fast allen Substanzen deutsche Autoren eine maßgebliche Rolle gespielt haben, wie z. B. der 2006 verstorbene Werner Creutzfeldt, dessen Andenken diese Publikation gewidmet ist.

Prof. Hellmut Mehnert

Prof. H. Mehnert

Drosselweg 16

82152 Krailling

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