ergoscience 2007; 2(2): 45-46
DOI: 10.1055/s-2007-963013
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

S. Voigt-Radloff1
  • 1Zentrum für Geriatrie und Gerontologie, Universitätsklinikum Freiburg
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Publication Date:
12 April 2007 (online)

Liebe Leserinnen und Leser,

wie funktioniert Evidenz-basierte Praxis? Dazu ein Beispiel: Wenn in den Niederlanden erforscht wurde, dass eine intensive Beratung Demenzerkrankter und ihrer Angehörigen und eine Umfeldadaption in ihrer Wohnung sowohl Erkrankte als auch Angehörige kompetenter in ihrem Alltag macht, dann sollte ich als Ergotherapeut eines deutschen Geriatriezentrums mit ähnlichen Klienten versuchen, diese Behandlung zumindest in Teilen auch bei mir einzuführen. Bei der Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die therapeutische Praxis kommen wichtige Fragen auf:

Existieren genug gute Studien zur Wirksamkeit von Ergotherapie? Nach welchen Studien sollen wir suchen und wie sollen wir sie finden? Nach welchen Kriterien sind die Studien zu bewerten? Wie können sie Klienten und Fachpraktikern verständlich nahe gebracht werden? Und vor allem: wie können wir Studienergebnisse in der Praxis umsetzen?

Einige Beiträge in der Ausgabe nehmen direkt Stellung zu diesen Fragen, andere geben indirekte Antworten.

Gabriele Wulf (S. 3) stellt in Ihrem Übersichtartikel Studienergebnisse zum motorischen Lernen dar und formuliert Empfehlungen, die Ergotherapeuten bei motorischen Übungsbehandlungen direkt umsetzen können. Klassische Ergotherapieforscher hätten diese Studien kaum gefunden, vielleicht gar nicht erst gesucht. Auf der Suche nach ergotherapierelevanten Studien müssen wir also über den eigenen Tellerrand hinausschauen.

Bernhard Borgetto et al. (S. 12) zeigen anhand ihres Modells der Forschungspyramide auf, dass die „traditionelle” Suche nach klassischer Evidenz - nämlich den randomisiert kontrollierten Studien - zu kurz greift, um ergotherapierelevante Wirksamkeitsnachweise ausfindig zu machen. Sie plädieren dafür, dass qualitative Studien und Untersuchungen aus der Versorgungsforschung ebenso Berücksichtigung finden. Ein offener Diskurs über die Forschungspyramide kann sicherlich Antworten zu den Fragen beisteuern, nach welchen Studien wir suchen und wie wir sie bewerten und zusammenführen sollten. Das Herausgeberteam freut sich auf Ihre Leserbriefe zu diesem Diskurs (wie auch über jeden anderen Kommentar).

Eine Kritik an Evidenz-basierter Praxis ist, dass klassische Wirksamkeitsforschung die Klientenperspektive zu wenig integriert. Selbsteinschätzungsbögen können helfen, die Sicht des Klienten sowohl in der Therapie als auch in der Outcome-Forschung zu erfassen. In meiner Originalarbeit (S. 22) stelle ich einen solchen Fragebogen vor, der die Einschätzung des Klienten zu seinen Alltagstätigkeiten analog zum etablierten ergotherapeutischen Assessment erfragt.

Ein weiterer Kritikpunkt zielt darauf ab, dass Studienpublikationen oder -bewertungen oft weder für Fachpraktiker noch für Klienten verständlich sind. Daher will ergoscience in Zukunft in der Rubrik Evidenz-basierte Praxis unter anderem kurze nutzerfreundliche Studienzusammenfassungen veröffentlichen, die auch für Klienten verständlich sind und kopiert werden können. Den Anfang macht die Zusammenfassung der „Groundbraker-Study” von Graff et al. zur ambulanten Ergotherapie bei Demenzerkrankten und ihren Angehörigen (S. 31). Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, wie schwierig der Weg von einer guten Studie bis zur Umsetzung in die Praxis ist.

Obwohl ich mir eine automatische E-Mail-Benachrichtigung über neue Studien eingerichtet hatte und die Studie in einem etablierten Journal veröffentlicht wurde, ist sie erst durch eine Kollegin aus den Niederlanden auf meinem Schreibtisch gelandet. Deshalb mein Rat: Besuchen Sie internationale Weiterbildungskurse, halten Sie Kontakt zu Kollegen aus anderen Ländern und nutzen Sie internationale Mailinglisten, um nach neuen Studien zu fragen.

Obwohl die Intervention direkt auf Klienten anwendbar ist, die wir in unserem Geriatriezentrum behandeln, könnte ich diese ergotherapeutische Behandlungsform in meiner Einrichtung nicht eins zu eins umsetzen, da das Manual für die Intervention nur in niederländischer Sprache vorliegt. Außerdem haben wir für unsere Klienten mit Demenzerkrankung ein Gruppenkonzept und nicht die Ressourcen für eine Einzelbehandlung, wie sie die niederländische Studie vorsieht. Einige Behandlungsprinzipien und gegebenenfalls einen Fragebogen aus der Studie werde ich wohl aber in unser bestehendes Behandlungskonzept übertragen können. So kommen wir also von der Theorie der Evidenzbasierung zu einer pragmatischen Evidenz-basierten Praxis.

Zusammenfassend können wir sagen: Evidenz-basierte Praxis in der Ergotherapie braucht den Blick über den eigenen Tellerrand, einen ergotherapiespezifischen Diskurs über die beste Methode der Studienbewertung und -zusammenführung, den unmittelbaren Einbezug von Klienten und Fachpraktikern sowie internationale Kontakte und Kooperation. Um wissenschaftliche Erkenntnisse tatsächlich in innovative und wirksame Ergotherapie vor Ort umzusetzen, benötigen wir aber einen Schuss Pragmatismus und vor allem viel Energie.

Zwar können wir keine Energie publizieren, wollen aber Sie, liebe Leserinnen und Leser, durch gute und verständliche Informationen und durch Weitergabe Ihrer Anregungen ermutigen, die Evidenz-orientierte Zusammenarbeit vor Ort, international und auch über unser Journal zu suchen. Wir freuen uns deshalb über Ihre Rückmeldungen und Anregungen und wünschen Ihnen in diesem Sinne einen kritischen Blick beim Lesen dieser Ausgabe.

Für das Herausgeberteam

Sebastian Voigt-Radloff

Sebastian Voigt-Radloff

Email: sebastian.voigt@uniklinik-freiburg.de