ergoscience 2007; 2(4): 159-160
DOI: 10.1055/s-2007-963533
Evidenz-basierte Praxis

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nutzerfreundliche Studienzusammenfassungen

Ambulante Ergo- und Physiotherapie verbessern die Alltagstätigkeiten von älteren, zu Hause lebenden MenschenS. Voigt-Radloff1
  • 1Zentrum für Geriatrie und Gerontologie Freiburg, Universitätsklinikum Freiburg
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Publication History

Publication Date:
04 October 2007 (online)

Gitlin LN, Winter L, Dennis MP, Corcoran M, Schinfeld S, Hauck WW. A Randomized Trial of a Multicomponent Home Intervention to Reduce Functional Difficulties in Older Adults. J Am Geriatr Soc 2006; 54: 809 - 816

Was ist das Problem und was ist bisher bekannt?

Chronische Krankheiten wie Herzerkrankungen, Gelenkrheumatismus und Schlaganfall haben negative Folgen im Alltag zu Hause lebender älterer Menschen. Sie führen zu Schwierigkeiten bei den Aktivitäten der körperlichen Selbstversorgung und eigenständigen Lebensführung, verringern die Lebensqualität und die Selbstsicherheit, verursachen Sturzangst und erhöhen die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und die Gesundheitskosten.

Verschiedene Studien zeigten, dass solche Alltagsprobleme bei Senioren mit einer bestimmten Erkrankung oder nach einer Krankenhausentlassung durch ambulante interdisziplinäre Behandlung gemindert werden konnten. Diese Studien untersuchten jedoch bisher keine älteren Menschen, die nicht vor kurzem im Krankenhaus waren und nicht an einer bestimmten Erkrankung litten, sondern Alltagsprobleme aufgrund verschiedener Ursachen hatten.

Was wurde in dieser Studie untersucht?

Die Autoren erforschten, ob die Alltagstätigkeiten von Senioren bei einer Gruppe mit ambulanter Ergo- und Physiotherapie besser wurden als bei einer ähnlich betroffenen Gruppe ohne diese Therapien.

Wer wurde untersucht?

Die Untersuchung erfolgte an 319 amerikanischen zu Hause lebenden Senioren einer bestimmten Region. Sie wurden durch die Medien und andere Maßnahmen in der Öffentlichkeit auf die Studie aufmerksam gemacht. Die Personen waren 70 Jahre oder älter, hatten keine größeren Denkstörungen und erhielten keine häusliche Pflege, benötigten aber nach eigener Einschätzung Hilfe bei den Aktivitäten der körperlichen Selbstversorgung oder eigenständigen Lebensführung.

Welche Therapie wurde durchgeführt?

Therapeuten mit mindesten 1 Jahr Berufserfahrung in ambulanter Therapie behandelten die Senioren 6 Monate lang insgesamt 10-mal (5 Hausbesuche à 90 Minuten eines Ergotherapeuten, 1 Besuch eines Physiotherapeuten sowie 4 Telefonanrufe eines Ergotherapeuten). Die Therapeuten erhielten vorher 35 Stunden Schulung und eine intensive Betreuung während der Studienzeit.

Zunächst befragte der Ergotherapeut die Probanden, bei welchen Alltagstätigkeiten sie Schwierigkeiten haben. Danach beobachtete er, wie sicher und erfolgreich sie die Tätigkeit ausführten und inwieweit Räumlichkeiten und Einrichtungsgegenstände sie dabei behinderten.

Beim 2. und 3. Besuch unterstützte der Ergotherapeut die Senioren darin, die Schwierigkeiten bei den ausgewählten Alltagstätigkeiten möglichst selbstständig zu lösen. Er gab Hinweise, wie die Tätigkeiten sicherer oder erfolgreicher ausgeführt, Barrieren in der Wohnung abgebaut oder Hilfsmittel eingesetzt werden können.

Beim 4. Besuch führte ein Physiotherapeut Balance- und Krafttraining durch.

Die darauf folgenden 4 Telefonanrufe und 2 Besuche des Ergotherapeuten dienten der Ermutigung, Beratung und Umsetzungskontrolle. Die zuständige Seniorenagentur installierte notwendige Hilfsmittel und Wohnraumanpassungen (z. B. Haltegriffe, Geländer).

Wie wurde die Studie durchgeführt?

Zu Beginn der Studie sammelten die Forscher verschiedene Informationen über die Probanden wie Alter, Geschlecht, Bildungsstand, ob sie alleine lebten, wie sehr sie im Denken eingeschränkt waren und unter wie vielen Erkrankungen sie litten. Die Hälfte der Teilnehmer erhielt die oben beschriebene Behandlung, die andere Hälfte nicht. Folgende Daten wurden vor und direkt nach (nach 6 Monaten) der Behandlung ermittelt:

  • Selbstständigkeit in den Aktivitäten der körperliche Selbstversorgung und eigenständigen Lebensführung;

  • Mobilität;

  • Einsatz von Hilfsstrategien;

  • Selbstsicherheit bei der Durchführung von Alltagstätigkeiten;

  • Sturzangst;

  • Barrieren innerhalb der Wohnung.

Ein halbes Jahr nach Behandlungsende (6 Monaten, nachdem beide Gruppen keine Therapie mehr erhalten hatten), wurden dieselben Daten nochmals erhoben. So ließ sich ermitteln, ob eine eventuelle Verbesserung in der behandelten Gruppe auch nach einer Zeit ohne Therapie stabil blieb.

Was haben die Forscher herausgefunden?

Direkt nach der Therapie zeigten die behandelten Probanden deutlich (signifikant) bessere Leistungen als die nicht behandelten, und zwar in allen oben genannten Bereichen, außer der Mobilität. Dabei besserten sich insbesondere Baden/Duschen, Putzen und Mahlzeitenzubereitung.

Ein halbes Jahr nach Therapieabschluss hatten die behandelten Senioren weiterhin weniger Sturzangst und setzten häufiger Hilfsstrategien ein als die nicht behandelten.

Die Behandlungskosten betrugen umgerechnet (Dollar in Euro) ca. 910 € pro Senior, wobei 330 € auf Wohnraumanpassung und Hilfsmittel sowie 580 € auf Personalkosten (Stundenvergütung: 65 €) entfielen.

Welche Stärken und Schwächen weist die Studie auf? Stärken Die Forscher führten die Studie nach strengen wissenschaftlichen Kriterien korrekt durch. Verbesserungen fanden sich direkt nach der Therapie in Bereichen, die für zu Hause lebende Senioren besonders wichtig sind: Aktivitäten der körperlichen Selbstversorgung und eigenständigen Lebensführung, Einsatz von Hilfsstrategien, Selbstsicherheit bei der Durchführung von Alltagstätigkeiten, Sturzangst und Barrieren innerhalb der Wohnung. Für die meisten Probanden (285 von 319) konnten die Daten auch ein halbes Jahr nach Therapieabschluss erhoben werden. Die behandelten Senioren zeigten auch nach dieser Zeit weniger Sturzangst und besseren Einsatz von Hilfsstrategien als die nicht behandelten. Diese Verbesserungen sind mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf die Behandlung zurückzuführen, weil sich die verglichenen Gruppen sehr ähnlich waren und nur darin unterschieden, dass die eine Therapie erhielt und die andere nicht. Das Behandlungsangebot galt für alle leicht hilfsbedürftigen Senioren einer Region mit durchschnittlich 7 verschiedenen Erkrankungen. Dennoch wurden sie nicht nach bestimmten Krankheitsbildern oder erst nach Krankenhausaufenthalten therapiert. Sie wurden mit ihrer eigenen Einschätzung des Hilfebedarfs ernst genommen. Das Programm erreichte zu 60 % allein lebende Senioren ebenso wie alle Bildungsschichten (1 / 3 mit mittlerem Bildungsabschluss, 1 / 3 darunter und 1 / 3 darüber). Die Autoren der Studie bezeichneten diese Gruppe als eine in Amerika unterversorgte Zielgruppe. Schwächen Die behandelten Senioren meldeten sich freiwillig zu der Studie und können deshalb als eher motiviert gelten. Außerdem waren sie überwiegend weiblich (ca. 80 %). Es gilt zu überlegen, wie sich auch ältere Männer und weniger motivierte Personen erreichen lassen. Die Therapeuten mussten vor der Behandlung ein 35-stündiges Training absolvieren, obwohl die Autoren betonen, dass die eigentliche Behandlung nicht neu ist, sondern nur neu kombiniert wurde. Die Messinstrumente wurden extra für diese Studie zusammengestellt, ohne sich bereits in anderen Untersuchungen bewährt zu haben. Dadurch könnten die Messgenauigkeit und -zuverlässigkeit reduziert sein. Ein halbes Jahr nach der Therapiepause waren nur noch 2 von 7 möglichen Verbesserungen messbar. Diese Untersuchung war die 1. Studie zu dieser Therapieform mit Vergleichsgruppe. Die Beweiskraft für die Wirksamkeit der Behandlung erhöht sich bei Durchführung einer Wiederholungsstudie mit ähnlich guten Ergebnissen.

Welche Bedeutung hat die Studie für die Praxis?

Leicht hilfsbedürftige zu Hause lebende Senioren stellen eine unterversorgte Zielgruppe für die ambulante ergo- und physiotherapeutische Behandlung dar. Diese Klienten sollten routinemäßig mit der hier wirksamen Therapieform behandelt werden. Es ist zu überprüfen, ob die Behandlung in deutschsprachigen Ländern ähnlich erfolgreich ist.

Sebastian Voigt-Radloff, EuMSC

Universitätsklinikum Freiburg, Zentrum für Geriatrie und Gerontologie Freiburg

Lehener Str. 88

D-79106 Freiburg

Email: sebastian.voigt@uniklinik-freiburg.de

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