Der Klinikarzt 2007; 36(3): 123
DOI: 10.1055/s-2007-976156
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Alle für einen oder jeder gegen jeden?

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
21. März 2007 (online)

Der Begriff „Kooperation” geht in der Medizin heute vielen leicht von den Lippen. Jeder kooperiert mit jedem. Die niedergelassenen Kollegen untereinander und mit den Ärzten im Krankenhaus. Im Krankenhaus ist das Zusammenwirken aller mit jedem ohnehin unausgesprochene Selbstverständlichkeit. Selbst Kliniken, eigentlich knallharte Konkurrenten und womöglich nur einen Steinwurf auseinander, verbindet allenthalben herzlichste Kooperationswilligkeit. Doch diese kooperative Wunderwelt ist eine Fiktion. Die Wirklichkeit sieht sehr viel brutaler aus.

Futterneid und Egozentrik waren in unserem Berufsstand schon immer zu beobachten. Das lag an den hierarchischen Strukturen. Der Chefarzt von einst verstand Kooperationsbereitschaft dahingehend, dass seine Mitarbeiter ihm zu folgen hatten - meist ohne Widerspruch. Doch eine solche Mannschaft funktionierte in der Regel. Dabei musste die Stimmung nicht einmal schlecht sein, denn es gab klare Spielregeln: Zuerst die Ochsentour, dann den Chefarztposten oder die gut gehende Praxis. Diese hierarchischen Strukturen sind mittlerweile Geschichte.

Lüften wir das beschönigende Mäntelchen der Kooperation, nimmt sich die Realität ziemlich frustrierend aus. So schätzen Fachärzte ihre allgemeinmedizinisch orientierten Kollegen nicht immer und schauen auf deren zwar breites, jedoch zwangsläufig nicht immer tiefes Wissen herab. Oder nehmen Sie den Praktiker, der dem Spezialisten misstraut, weil der oft den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Beides ist verständlich und plausibel, doch der Grund für die gegenseitige Abneigung ist die Ökonomie. Welcher Allgemeinarzt verliert schon gerne seine Kunden an den Spezialisten? Der wiederum behält sie gerne für sich. Und auch zwischen uns Krankenhausärzten und unseren Zuweisern nimmt sich nicht alles rosarot aus.

Damit noch nicht genug. In welch prekärer Situation befinden wir Kliniken uns in unserem Verhältnis untereinander? Von wegen Zentrenbildung! Da entsteht mir nichts, dir nichts ein paar Kilometer weiter weg in einer kleinen Klinik plötzlich ein zusätzlicher Linksherzkatheterplatz. Aus Versorgungsgründen braucht den keiner, doch das benachbarte Haus will sich damit zusätzliche Patienten beschaffen, um zu überleben. Was die eine Seite gewinnt, geht der anderen verloren und stellt deren Rentabilität infrage. Als neutraler Beobachter kann ich daraus auch niemandem einen Vorwurf machen. Jedem Chef sitzt sein Management im Nacken und verordnet Zielvorgaben. Doch Herzinfarkte und Schlaganfälle lassen sich nicht beliebig akquirieren, nur verteilen. Und wenn immer mehr dem anderen das Geschäft wegnehmen, dann wird es eng - für alle.

Wahrscheinlich fördert betriebswirtschaftliches Denken, das sich zu eng am industriellen Marketing orientiert, einen Wettbewerb, der in Konkurrenz ausartet. Was hilft dagegen? Wenn es uns auch schwer fällt, wir brauchen dringend wieder Werte, die unser Denken und Empfinden lenken. Gerade wir im Gesundheitswesen müssen anders funktionieren als die Industrie, die derzeit oft als Vorbild gilt. Das Renditedenken, das die privaten Klinikketten vorführen und das ökonomischen Erfolg hat, ist Gift für uns im Gesundheitswesen. Wir haben es - klammern wir das Anti-Aging und die Arbeit der Schönheitschirurgen aus - nicht mit Kunden zu tun, die sich für oder gegen ein Produkt entscheiden und den günstigsten Anbieter suchen. Wir haben Patienten vor uns, welche beispielsweise die Diagnose Krebs in ihrem Innersten trifft. Ich meine, wir brauchen durchaus altmodische, verstaubte Werte, die die Medizin viele Jahrhunderte lang zu einer unvergleichbaren Disziplin gemacht haben.

Und wir Ärzte müssen endlich zusammenrücken, egal ob wir in einer Klinik arbeiten oder in der Praxis, egal ob wir Spezialisten oder allgemeinmedizinisch ausgerichtet sind. Wenn wir unsere vitalen Interessen gemeinsam wahrnehmen und gemeinsam unsere Ziele verfolgen, sind wir überzeugend und stark - und dies zum Wohle unserer Patienten, die einen Arzt aufsuchen und keinen Medizin verteilenden Funktionär!

Prof. Dr. Matthias Leschke

Esslingen