RSS-Feed abonnieren
DOI: 10.1055/s-2007-985271
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Das Dilemma von Schmerzpatienten in der kassenärztlichen Versorgung
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
13. Juli 2007 (online)
„Das kassenärztliche Abrechnungssystem ist teuer, ineffizient und ungerecht” (FAZ 11.01.2007: die alltägliche Planwirtschaft). Und produziert im Bereich der Schmerztherapie das, was es eigentlich verhindern sollte, nämlich die weitere Chronifizierung bei Patienten mit ungelösten Schmerzproblemen.
Die medizinischen Kenntnisse um die Dynamik der Schmerzchronifizierung sind in der ambulanten und stationären medizinischen Regelversorgung weitgehend unbekannt, Konzepte zur Prävention der Schmerzchronifizierung nicht existent. Auch im EBM 2000plus, im Jahre 2005 umgesetzt, sind trotz Wissen um die Bedeutung der Neuroplastizität keine präventiven Gesichtspunkte verankert.
Stattdessen wurde das Honorar für die qualifizierte Schmerztherapie weiter gesenkt, in Einzelfällen bis zu mehr als 40 %. Und das trotz der allseits beklagten schmerztherapeutischen Unterversorgung, wer will das verstehen? Außer man schaut hinter die Kulissen! In den Zeiten der immer knapper werdenden Kassen und des innerärztlichen Verteilungskampfes wird bei der kleinsten Fachgruppe, aufgrund des geringer zu erwartenden Protestes, angefangen zu sparen. Einzelne Schmerzpraxen haben bereits geschlossen oder finden keinen Nachfolger mehr. In der Konsequenz bedeutet dies eine weitere Ausdünnung der schmerztherapeutischen Angebote, die ja bereits seit Jahren durch die allgemeine Regelungswut in ihren therapeutischen Möglichkeiten eingeengt sind. Belohnt wird die in der Gebührenordnung vorgeschriebene Aneinanderreihung kleinteiliger Leistungen, die in zeitraubende Behandlungsserien einmünden und der weiteren Ausdehnung des Schmerzproblems Vorschub leisten. Interdisziplinäre Zusammenarbeit - in der Schmerztherapie essentiell und unverzichtbar - ist nicht realisiert, dafür steht auch kein Honorar zur Verfügung.
„Das Vergütungssystem der Ärzte treibt Menge und verdirbt die Preise” (Deutsches Ärztezeitung vom 28.11.06). Die systemischen Vorgaben der Kassenärztlichen Vereinigung induzieren genau dies: medizinische Versorgung bis zum Ausschöpfen des „Drei-Monats-Vorrats”, Wiedervorstellung im nächsten Quartal garantiert.
Die qualifizierte Schmerztherapie degeneriert in diesem Milieu kassenärztlicher Versorgung zur letzten Instanz für die im System der Regelversorgung austherapierten Patienten, die in dem zuvor beschriebenen System zu Schmerzkranken geworden sind: seit Jahren Schmerzen, bei allen Ärzten im Ort bekannt, immer wieder krank geschrieben oder Zeitrente schon bewilligt, alle Leistungen aus der Gebührenordnung schon erbracht!
Die Situation gleicht dem Szenario, in dem sich die Feuerwehr auf den Weg macht zu löschen, wenn das Haus bereits bis auf die Grundmauern abgebrannt ist. Sowohl für den einzelnen Betroffenen wie auch das Sozialsystem sind die Folgen verheerend: im deutschen Gesundheitswesen hat dies zu einer hohen Zahl von schmerzkranken Patienten und zur höchsten Frühberentungsrate bei Patienten mit Rückenschmerzen in der westlichen Welt geführt, bei den insgesamt höchsten Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben weltweit nach den USA und der Schweiz.
Daher muss die Schmerztherapie der Zukunft früher greifen. Um diesen Trend zu durchbrechen hat die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie neue Konzepte für die integrierte Versorgung entwickelt und bereits Verträge mit einzelnen Krankenkassen abgeschlossen, ein Pilotprojekt mit mehreren Zentren in ganz Deutschland für die Versorgung von Rückenschmerz-Patienten (IVR). Aufgrund des erfolgreichen Verlaufes des Pilotprojekts zur Behandlung von Rückenschmerz-Patienten wird das Projekt nun ausgeweitet und der Vertrag verlängert.
Darum hat die Gesellschaft nun auch ein Konzept für die Integrierte Versorgung zur Prävention der Schmerzchronifizierung (IVS) entwickelt, damit auch Patienten mit anderen Schmerzarten von den modernen Strategien profitieren. Dazu spricht die Krankenkasse gezielt Versicherte an, die sich bereits seit längerer Zeit wegen ihrer Schmerzen in ärztlicher Behandlung befinden, arbeitsunfähig und nicht schmerzfrei sind. Das Prinzip: Hausärzte, Fachärzte, Schmerz-, Psycho- und Physiotherapeuten arbeiten Hand in Hand, ebenso sind ambulante und stationäre Zentren eingebunden. Und auf die Patienten kommt mit dem kompakten Programm eine intensive Schulung zu.
Diese Projekte zeigen, was eine moderne Schmerzmedizin zu leisten vermag, wenn sie rechtzeitig eingesetzt wird - dann, wenn sich die Schmerzen noch in einem frühen Stadium der Chronifizierung befinden. Prinzip ist, dass die Patienten eine hocheffektive und wirkungsvolle Behandlung erhalten, die sie vor weiterer Chronifizierung bewahrt. Die Krankenkassen können durch eine optimale Versorgung und die Reduktion von Folgemaßnahmen Gelder einsparen. Und auch die Leistungserbringer erhalten eine Chance, durch Überwindung der sektoralen Versorgung mit den Mitteln der Koordination, Kommunikation und Qualität ihr eigentliches Können zu demonstrieren!