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DOI: 10.1055/s-2008-1004673
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Diabetische Neuropathie
Publikationsverlauf
2007
Publikationsdatum:
11. April 2008 (online)
Sensomotorische diabetische Neuropathie
Definition, Risikofaktoren und Risikoindikatoren
Die diabetische Neuropathie ist eine klinisch-manifeste oder subklinische Erkrankung der peripheren Nerven, die infolge eines Diabetes mellitus ohne andere Ursachen auftritt. Sie kann das somatische und/oder das autonome Nervensystem betreffen. Es bestehen Assoziationen mit
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Diabetesdauer, Lebensalter,
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Diabeteseinstellung (Hyperglykämie),
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diabetischer Retinopathie,
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diabetischer Nephropathie,
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arterieller Hypertonie,
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Hyperlipidämie,
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Mediasklerose,
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Alkohol, Nikotin,
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Adipositas, metabolisches Syndrom.
Eine sensomotorische periphere Neuropathie ist in 85 bis 90 % an der Ätiologie des diabetischen Fußsyndroms beteiligt und hat einen erstrangigen Stellenwert in der Risikokonstellation für Fußulkus und Amputation.
Bei manifestem Diabetes Typ 1 und Typ 2 ist mit einer mittleren Prävalenz der sensomotorischen (und autonomen) Neuropathie um 30 % zu rechnen. Etwa 10 bis 15 % der manifesten Diabetiker haben eine chronisch-schmerzhafte Neuropathie (Schmerzen über 3 Monate).
Klinische Untersuchung und Diagnose
Aufgrund klinischer Kriterien können unterschiedliche Verlaufsformen unterschieden werden:
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subklinische Neuropathie (keine Symptome und klinische Befunde, aber pathologische quantitative neurophysiologische Tests),
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chronisch-schmerzhafte Neuropathie (häufig),
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akut-schmerzhafte Neuropathie (eher selten),
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schmerzlose Neuropathie (häufig),
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fokale Neuropathien, z. B. diabetische Amyotrophie (selten) und
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als Langzeitkomplikation das diabetisch-neuropathische Fußsyndrom mit Fußulkus, Neuroosteoarthropathie und Amputation.
Als Minimalkriterien für die Diagnose gelten ([Abb. 1]):
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mäßig ausgeprägte neuropathische Defizite (NDS 6-8 Punkte) mit oder ohne Beschwerden oder
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leichte neuropathische Defizite (NDS 3-5 Punkte) mit mäßig ausgeprägten Beschwerden (NSS 4-6 Punkte).
Wichtig:
Leichte Defizite allein (NDS 3-5 Punkte) oder in Kombination mit leichten Symptomen (NSS 3-4 Punkte) ermöglichen noch keine Neuropathiediagnose und sollen kontrolliert werden.
Zur Erkennung gefährdeter Patienten sollen bei zumindest jährlichen Arztbesuchen folgende Daten erhoben und Untersuchungen durchgeführt werden (siehe auch Gesundheits-Pass Diabetes, NVL „Diabetische Fußkomplikationen” 5 / 2007):
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Anamnese mit persönlichen Grunddaten und Diabetes-spezifischen Daten,
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neuropathische Plus- und Minussymptome (z. B. sensible Reizerscheinungen, Schmerzen, Krämpfe, Taubheitsgefühl),
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Inspektion (Hautfarbe, trophische Störungen, Fußdeformität, Fußulkus, Verletzungen, Infektion),
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klinische Untersuchung (Hautemperatur, Gelenkbeweglichkeit, Palpation der Fußpulse, ggf. Messung der Dopplerdrucke mit Berechnung der Dopplerindizes) und
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klinisch-neurologische Tests, die immer bilateral durchgeführt werden müssen (s. Praxistools, [Tab. 1]).
Bei klinisch-manifester Neuropathie sollte die Basisuntersuchung im Abstand von höchstens 6 Monaten wiederholt werden. Die minimal notwendigen Tests ergeben sich aus dem NDS (s. Praxistools, [Abb. 1]). Die zusätzliche Untersuchung der Temperatur- und Schmerzempfindung ist wichtig, da hierbei die sog. dünnen (markarmen und marklosen) A-delta- und C-Fasern erfasst werden, die etwa 80 % des peripheren Nervengewebes ausmachen.
Praxistools (s. Anhang) Abb. 1: Diagnosekriterien für die sensomotorische diabetische Neuropathie Tab. 1: Einfache neurologische Untersuchungsmethoden zur Diagnose der sensomotorischen diabetischen NeuropathieSchmerzphänomene müssen genau hinterfragt, diagnostisch und differenzialdiagnostisch eingeordnet und gezielt behandelt werden (s. Praxistools, [Abb. 1] und [Abb. 2]). Wichtige diagnostische Hilfen zur Erfassung von Schmerzintensität, Schmerzqualität, Schmerzverlauf und Schmerzart (z. B. nozizeptiv, neuropathisch) sind numerische Rating-Skala und validierte Schmerzfragebögen (z. B. painDETECT). Komorditäten wie Schlafstörungen, Depressionen und Angststörungen sind bei Diabetikern häufig (s. DDG Praxis-Leitlinie „Psychosoziales und Diabetes”).
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnostisch wichtig sind Medikamente (z. B. Zytostatika), Toxine (z. B. Alkohol) und andere Ursachen wie Niereninsuffizienz, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Vitamin-B12-Mangel, Tumorleiden, Paraproteinämien, Neuroborreliose, Schilddrüsenerkrankungen, HIV-Infektion, Engpasssyndrome und CIDP (chronische, inflammatorische, demyelinisierende Polyneuropathie).
An eine andere Ätiologie muss gedacht werden und eine Überweisung zum Neurologen erfolgen bei:
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Fehlen anderer diabetischer Langzeitkomplikationen (Retinopathie, Nephropathie),
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vorwiegend motorischen Ausfällen,
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rascher Entwicklung der Symptomatik,
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stark ausgeprägter Asymmetrie, Mononeuropathie und Hirnnervenstörung,
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Fortschreiten der Symptomatik trotz Optimierung der Stoffwechsellage,
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Beginn der Symptomatik an den oberen Extremitäten,
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Nachweis anderer neurologischer Symptome über das polyneuropathische Syndrom hinaus,
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positiver Familienanamnese einer Neuropathie.
Da etwa 50 % der Neuropathien asymptomatisch verlaufen und mit einem hohen Risiko für das diabetische Fußsyndrom und eine Amputation verbunden sind, muss eine gezielte Frühdiagnostik erfolgen. Screening-Untersuchungen einer distalen, symmetrischen, sensomotorischen Neuropathie bei Diabetes mellitus Typ 1 und insbesondere (wegen des oftmals langjährigen, asymptomatischen Verlaufs) bei Diabetes Typ 2 sollen bei Diagnosestellung und dann in jährlichen Abständen erfolgen. Tests auf eine autonome Dysfunktion (siehe unten) sollten beim Diabetes Typ 2 bei Diagnosestellung und beim Diabetes Typ 1 ab 5 Jahren nach Manifestation in Erwägung gezogen werden. Dies gilt insbesondere bei entsprechenden Risiken und Verdachtsmomenten (siehe S. 150, 152, [Tab. 2] und [Tab. 3 a]).
Therapie
Die Optimierung der Diabeteseinstellung ist der alleinige, allgemein akzeptierte Kausalansatz zur Prävention und Therapie der diabetischen Neuropathie. Zielwerte sind ein HbA1C unter 6,5 -7 %, wobei unter Berücksichtigung des individuellen Hypoglykämierisikos ein Wert unter 6 % angestrebt werden kann (American Diabetes Association, Position Statement, Diabetes Care, Suppl. 1, 2008). Zusätzlich zählen die optimale Kontrolle von Hypertonie (Blutdruck < 130 / 80 mmHg) und Dyslipidämie (LDL < 100 mg / dl, HDL > 40 mg / dl (Männer), > 50 mg / dl (Frauen), Triglyzeride < 150 mg / dl) im Rahmen einer intensivierten, multifaktoriellen Therapie zu den notwendigen Basismaßnahmen bei allen Neuropathieformen (s. auch [Abb. 2]). Andere, pathogenetisch begründbare Therapieansätze sind derzeit nicht gesichert.
Alle Risikofaktoren müssen erfasst und ggf. behandelt werden (s. o.). Wichtig ist der Hinweis, dass sich neuropathische Symptome unterschiedlicher Schweregrade innerhalb von Wochen bis Monaten spontan bessern können. Die wichtigsten therapeutischen Basismaßnahmen und die Möglichkeiten der symptomatischen Therapie sind im Anhang aufgeführt (s. Praxistools, [Abb. 2]). Die Behandlung mit den aufgelisteten Pharmaka zur symptomatischen medikamentösen Therapie setzt detaillierte Kenntnisse von Wirkungen, Nebenwirkungen und Kontraindikationen voraus. Die Empfehlungen beruhen zum Teil auf nur wenigen Studien mit kleinen Fallzahlen.
Praxistools (s. Anhang) Abb. 2: Therapie der sensomotorischen Neuropathie bei Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2.
Prof. Dr. med. M. Haslbeck
Forschergruppe Diabetes an der GSF
Ingolstädter Landstraße 1
85764 Neuherberg
Telefon: 0 89/31 87 29 71
Fax: 0 89/45 34 66 12
eMail: manfred.haslbeck@lrz.uni-muenchen.de