Rehabilitation (Stuttg) 2008; 47(2): 65-66
DOI: 10.1055/s-2008-1042442
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Patientenorientierung in der Rehabilitation

Patient Orientation in RehabilitationW. H. Jäckel 1 , J. Bengel 2
  • 1Abteilung Qualitätsmanagement und Sozialmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
  • 2Abteilung Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie, Institut für Psychologie, Universität Freiburg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
28. März 2008 (online)

Nehmen Sie sich einen kurzen Moment Zeit, um zu prüfen, welche Assoziationen der Begriff „Patientenorientierung” hervorruft.

Möglicherweise denken Sie an „Selbstbestimmung”, „Eigenverantwortung”[1], daran, Behandlungsziele mit dem Patienten abzustimmen [2] oder „… sich darauf einzustellen, was der Patient will, erwartet oder erhofft …”[3]. Gesundheitsökonomen überlegen, in welcher Form „consumer-driven health care” auf die finanziellen Aspekte der Gesundheitsversorgung wirken kann [4]. Rehabilitationswissenschaftlern fällt die Risikoadjustierung der Ergebnismessung ein, die Patientenmerkmale als Einflussgrößen berücksichtigt [5]. Auch in der Qualitätssicherung von Behandlungsmaßnahmen gibt es einige Aspekte, die mit Patientenorientierung in Verbindung gebracht werden, wie z. B. die Messung der Patientenzufriedenheit oder die patientenseitig erfasste Ergebnisqualität [6]. Nicht zuletzt fällt der Begriff „Patientenorientierung” im Zusammenhang mit der Entwicklung von neuen Behandlungskonzepten oder Versorgungsstrukturen [7] [8].

Diese Vielfalt der Themenbereiche macht deutlich, dass das Bemühen um ein Verständnis von „Patientenorientierung” eine interdisziplinäre Herangehensweise erfordert. Die Rehabilitationswissenschaften, die sich interdisziplinär definieren, sehen sich deswegen in besonderer Weise gefordert, sich in diesem Zweig der Gesundheitsversorgungsforschung einzubringen [9]. Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes [10] geht bei der Verortung des Konzepts von „Patientenorientierung” systematisch vor, indem eine Definition auf verschiedenen Ebenen vorgenommen wird. Auf der „Mikroebene” spielt die Arzt-Patienten-Beziehung oder der gesamte Bereich der Patienteninformation und -beratung eine wesentliche Rolle. Die „Mesoebene” definiert die Prozesse, bei denen Patienten durch Vertreter z. B. in Verbänden oder Institutionen in Entscheidungs- und Beratungsprozesse einbezogen werden. Als „Makroebene” wird die Ebene der Gesetzgebung, aber auch die Ebene der Forschungsförderung verstanden. Dass der Begriff „Patientenorientierung” besonders auf dieser Ebene an Bedeutung gewonnen hat, lässt sich im Namen des neuen Förderschwerpunkts „Chronische Krankheiten und Patientenorientierung” ablesen, der Anfang 2008 startete[1]. Diese Forschungsförderung wird neben den Ministerien für Bildung und Forschung, für Gesundheit sowie Arbeit und Soziales von der Deutschen Rentenversicherung, den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen und dem Verband der privaten Krankenkassen getragen. Die drei Letztgenannten treten demnach gleichzeitig als Leistungsträger rehabilitativer Maßnahmen und als Forschungsförderer auf, was die Bedeutung des Forschungsfeldes „Patientenorientierung” für die Rehabilitationswissenschaften unterstreicht.

Die vorliegende Ausgabe der Zeitschrift „Die Rehabilitation” widmet sich dem Themenschwerpunkt der „Patientenorientierung in der Rehabilitation”, mit dem Ziel, den Begriff innerhalb der Rehabilitationswissenschaften aus unterschiedlichen Perspektiven zur Diskussion zu stellen. Die Übersichtsarbeiten beschäftigen sich mit dem Zusammenhang zwischen Patientenorientierung und Internationaler Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit [11], der Patientenschulung als Instrument der Patientenorientierung [12], dem Konzept der partizipativen Entscheidungsfindung [13], dem Konzept der Narrativen Medizin [14], der Genderperspektive [15] und den rechtlichen Aspekten der Patientenorientierung [16].

Offen bleibt die Frage, welchen Nutzen und welche Pflichten für den Patienten bleiben, wenn Patientenorientierung in der Rehabilitation (und in anderen Feldern des Gesundheitsversorgungssystems) zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Konzepte wie „Empowerment” und „Selbstmanagement” implizieren, dass der Patient zwar Unterstützung vom Versorgungssystem erwarten kann, aber gleichzeitig Eigenverantwortung im Kontext der Behandlung übernehmen muss. Ob der chronisch kranke Patient „Patientenorientierung” als Segen oder als Last empfindet, ist bisher offen. Die Wechselwirkung zwischen Patientenorientierung und Patientenpräferenz muss noch besser untersucht und verstanden werden. Risiken und Nebenwirkungen der „Patientenorientierung” sind ebenfalls in den Blick zu nehmen.

Literatur

  • 1 Schönle PW. Anforderungen an eine patientenorientierte Rehabilitation.  Rehabilitation. 2003;  42 261-268
  • 2 Kusak G, Mau W. Die Relevanz der Reha-Zielerreichung nach Einschätzung der Rehabilitanden für den langfristigen Erwerbsverlauf: Ein Beitrag zur Patientenorientierung bei der Rückenschmerzrehabilitation.  Phys Rehab Kur Med. 2006;  16 9-16
  • 3 Schwarz R. Anspruch und Wirklichkeit - Patientenorientierung im Klinikalltag ist oberstes Gebot.  Klinikarzt. 2006;  35 XIV-XVII
  • 4 Berg M, Brantes F de, Schellekens W. The right incentives for high-quality, affordable care: a new form of regulated competition.  International Journal for Quality in Health Care. 2006;  18 ((4)) 261-263
  • 5 Farin E, Glattacker M, Jäckel WH. Prädiktoren des Rehabilitationsergebnisses bei Patienten nach Hüft- und Knieendoprothetik - Eine Multi-Ebenen-Analyse.  Phys Med Rehab Kuror. 2006;  16 82-91
  • 6 Jäckel WH, Farin E. Qualitätssicherung in der Rehabilitation: Wo stehen wir heute?.  Rehabilitation. 2004;  43 271-283
  • 7 Korsukéwitz C, Rose S, Schliehe F. Zur Bedeutung von Leitlinien für die Rehabilitation.  Rehabilitation. 2003;  42 67-73
  • 8 Fuchs H. Medizinische Leistungen zur Rehabilitation und integrierten Versorgung.  Rehabilitation. 2004;  43 325-334
  • 9 Koch U, Morfeld M. Bestandsaufnahme und Zukunft der Rehabilitationsforschung in Deutschland.  Rehabilitation. 2007;  46 127-144
  • 10 Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt .Bürger- und Patientenorientierung im Gesundheitswesen. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 32. Berlin: RKI 2006
  • 11 Farin E. Patientenorientierung und ICF-Bezug als Herausforderungen für die Ergebnismessung in der Rehabilitation.  Rehabilitation. 2008;  47 ((2))
  • 12 Faller H, Reusch A, Ströbl V, Vogel H. Patientenschulung als Element der Patientenorientierung in der Rehabilitation.  Rehabilitation. 2008;  47 ((2))
  • 13 Simon D, Loh A, Härter M. Grundlagen der partizipativen Entscheidungsfindung und Beispiele der Anwendung in der Rehabilitation.  Rehabilitation. 2008;  47 ((2))
  • 14 Lucius-Hoene G. Krankheitserzählungen und die narrative Medizin.  Rehabilitation. 2008;  47 ((2))
  • 15 Mittag O, Grande G. PatientInnenorientierung in der Rehabilitation - Die Genderperspektive.  Rehabilitation. 2008;  47 ((2))
  • 16 Welti F. Rechtliche Aspekte einer „Patientenorientierung” in der Rehabilitation.  Rehabilitation. 2008;  47 ((2))

1 Die Ausschreibung findet sich unter: www.gesundheits forschung-bmbf.de/de/1277.php.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Wilfried H. Jäckel

Abteilung Qualitätsmanagement und Sozialmedizin

Universitätsklinikum Freiburg

Breisacher Str. 62

Haus 4

79106 Freiburg

eMail: wilfried.jaeckel@uniklinik-freiburg.de