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DOI: 10.1055/a-0778-9883
Dysmelien und orthopädietechnische Versorgungsmöglichkeiten
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Publication History
Publication Date:
19 March 2020 (online)
- Einleitung
- Begriffsbestimmung
- Ätiologie
- Diagnostik, Einteilung
- Orthopädietechnische Versorgungsmöglichkeiten
- Klinische Beispiele
- Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
- Literatur
Angeborene Fehlbildungen am menschlichen Bewegungsapparat präsentieren sich klinisch ausgesprochen vielfältig und sehr unterschiedlich in ihren motorischen Auswirkungen. Das Wissen um die orthopädietechnischen Versorgungsmöglichkeiten ist unter den verordnenden Ärzten jedoch oft nicht ausreichend.
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Abkürzungen
Einleitung
Die klinische Ausprägung angeborener Fehlbildungen am menschlichen Bewegungsapparat ist ausgesprochen vielfältig und sehr unterschiedlich in ihren motorischen Auswirkungen. In aller Regel empfinden sich die Patienten nicht als „behindert“, wissen jedoch sehr wohl um ihre Defizite, die sie von den „Gesunden“ unterscheiden. Der Wunsch nach möglichst umfangreicher Mobilität ist bei fast allen Patienten groß, die Variabilität der Fehlbildungen ist komplex, das Wissen um die orthopädietechnischen Versorgungsmöglichkeiten ist unter den verordnenden Ärzten jedoch oft nicht ausreichend.
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Begriffsbestimmung
Die Orthese stützt, korrigiert und stabilisiert eine vorhandene Gliedmaße/Körperteil.
Prothese
Die Prothese ersetzt eine nicht vorhandene Gliedmaße/Körperteil.
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Orthoprothese
Die Orthoprothese ist eine Kombination aus Orthese und Prothese; stützt und korrigiert den vorhandenen fehlgebildeten Körperabschnitt und ersetzt z. B. den fehlenden Anteil.
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Dysmelie
Eine Dysmelie ist eine angeborene Fehlbildung einer oder mehrerer Gliedmaßen. Nach ICD-10 spricht man von „sonstigen Reduktionsdefekte nicht näher bezeichneter Extremität(en)“ Q73.8. Weitere Fachbegriffe und Differenzierungen rund um die Dysmelie fasst die folgende Übersicht zusammen.
Adaktylie
Einzelne oder alle Finger oder Zehen fehlen.
Akromelie
Verkürzung besonders der distalen Extremitätenanteile (Finger oder Zehen).
Amelie
Völliges Fehlen der Gliedmaße(n).
Apodie
Fehlen des Fußes.
Brachydaktylie
Verkürzungen von Gliedmaßen: Finger oder Zehen.
Ektrodaktylie
Fehlbildung des Hand- oder Fußskeletts: Finger oder Zehen sind verkürzt oder fehlen (Oligodaktylie); wird auch als Spalthand bzw. Spaltfuß bezeichnet.
Ektromelie
Einzelne oder mehrere Röhrenknochen sind nicht oder zu klein ausgebildet.
Kamptodaktylie
Beugekontraktur der Mittelgelenke, meist des Kleinfingers.
Klinodaktylie
Angeborene seitlich-winklige Abknickung eines Fingerglieds im Handskelett.
Mesomelie
Verkürzung der mittleren Anteile der Extremität (Unterarme oder Unterschenkel).
Mirror Foot
Form der Polydaktylie mit partieller Fußdoppelung.
Mikromelie
Angeborene Verkürzung der Gliedmaße(n).
Oligodaktylie
Völliges Fehlen von Fingern oder Zehen.
Peromelie
Transversaler Defekt, amputationsartiger Stumpf.
Perodaktylie
Verkürzte Finger/Stummelfingrigkeit.
Phokomelie
Robbengliedrigkeit: Fehlen der Röhrenknochen der Gliedmaßen mit Ansätzen der Hände bzw. Füße am Schulter- bzw. Hüftgelenk.
Polydaktylie
Vermehrte Anzahl von Anteilen von Hand- oder Fußgliedmaßen.
Proteus-Syndrom
Regionaler Überwuchs, vielfältiges klinisches Erscheinungsbild. Es entwickeln sich häufig Tumoren.
Rhizomelie
Verkürzung der proximalen Anteile der Extremität (Oberarme oder Oberschenkel).
Syndaktylie
Häutige, knöcherne oder totale Verwachsung bzw. Nichttrennung von Finger- oder Zehengliedern.
Synostosen
Knöcherne Verbindung (Verschmelzung) zweier Knochen, die zuvor knorpelig oder bindegewebig verbunden waren.
Tetraamelie
Alle vier Gliedmaßen sind betroffen.
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Ätiologie
Die Störung in der Extremitätenentwicklung tritt zumeist während der sensiblen Phase der Schwangerschaft zwischen dem 29. und 46. Tag durch exogene Noxen auf, z. B.
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Sauerstoffmangel,
-
bestimmte Pharmaka, z. B. Antiepileptika, Thalidomid
-
Infektionen, z. B. Rubellavirus, Toxoplasmose
-
Mangelernährung,
-
Bestrahlung der Schwangeren,
-
amniotisches-Band-Syndrom.
Die Ausbildung der Störung hängt ab vom Zeitpunkt des Einwirkens und der Wirkungsdauer der Noxen [1]. Es spielen auch genetische Faktoren (Holt-Oram-Syndrom [2] oder TAR-Syndrom) und Spontanmutationen eine Rolle [3], [4], [5].
Ein ätiologischer Zusammenhang zu exogenen Faktoren gelang bisher nur bei Thalidomid [3].
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Diagnostik, Einteilung
Eine Dysmelie kann per Sonografie im Rahmen der Pränataldiagnostik bereits im Mutterleib diagnostiziert werden.
Etabliert hat sich die Einteilung der Dysmelien modifiziert nach Swanson [6] ([Tab. 1]).
Typ |
Bezeichnung |
Beispiele |
|
---|---|---|---|
I |
Ausbildungsdefekt |
longitudinal |
proximaler Femurdefekt Fibula- oder Tibiahypoplasie/-aplasie |
transversal |
Perodaktylie Peromelie Amelie |
||
II |
Differenzierungsdefekt |
Kamptodaktylie Klinodaktylie Syndaktylie Synostosen |
|
III |
Doppelbildungen |
Mirror Foot Polydaktylie |
|
IV |
Gigantismus |
Proteus-Syndrom |
|
V |
Hypoplasie |
Apodie Adaktylie Brachydaktylie |
|
VI |
Schnürfurchensyndrom |
||
VII |
generalisierte Skelettdeformität |
Arthrogryposis multiplex congenita Achondroplasie Phosphatdiabetes Osteogenesis imperfecta |
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Orthopädietechnische Versorgungsmöglichkeiten
Die orthopädietechnische Versorgung bei Dysmelien ist sehr individuell. Sie erfolgt in Abhängigkeit der Einschränkung, der Fehlbildung und der Ansprüche des Patienten und auch der Eltern.
Wichtigster Grundsatz ist, dass Hilfsmittel helfen sollen!
Deshalb nimmt im Rahmen der Versorgung die Hilfsmittelerprobung unter physio- und ergotherapeutischer Unterstützung einen großen Stellenwert ein.
Bei der Versorgung müssen viele Aspekte berücksichtigt werden:
-
Grunderkrankung.
-
Ziel der Versorgung.
-
Motorisches Niveau (aktuell und angestrebt).
-
Weitere Defizite:
-
z. B. an der kontralateralen oder oberen Extremität?
-
Kognitive Einschränkungen?
-
-
Liegen Deformitäten vor? Gegebenenfalls Deformitätenanalyse (z. B. Gelenkwinkel) durchführen.
-
Wie ist die Situation von vorhandenen Gelenken:
-
Hüftsituation?
-
Ist das Knie stabil?
-
Ist die Patella:
-
hypoplastisch?
-
luxiert?
-
instabil?
-
-
Wie ist das Sprunggelenk:
-
mobil?
-
steif?
-
-
-
Wie ist die Rückfußstellung:
-
flexibel
-
steif?
-
-
Liegt eine Beinlängendifferenz vor? Wie ist die aktuelle bzw. wie ist die zu erwartende Beinlängendifferenz?
-
etc.
Zu berücksichtigen sind, (modifiziert nach Baumgartner [7], [8], [9], [10]) neben den direkt die Krankheit oder den Patienten betreffenden Kriterien zur Indikationsstellung und Erfolgswahrscheinlichkeit einer Orthesen-/Prothesenversorgung, folgende Gesichtspunkte:
-
der körperliche und psychomotorische Entwicklungszustand,
-
der psychische Zustand,
-
die Umwelt,
-
die Ätiologie der Amputation [Behinderung/Einschränkung],
-
die Höhe der Amputation [Behinderung/Einschränkung],
-
die Frage, ob eine ein- oder mehrfache Amputation [Behinderung/Einschränkung] vorliegt,
-
die Zeitspanne zwischen der Amputation [Behinderung/Einschränkung] und der Prothesenversorgung,
-
die Möglichkeiten der Orthopädietechnik.
Nachfolgend werden die Aspekte nach Baumgartner [7], [8], [9], [10] kurz erläutert:
Körperlicher und psychomotorischer Entwicklungszustand
Zu einer erfolgreichen Versorgung müssen berücksichtigt werden:
-
physische Probleme, z. B.
-
Grunderkrankung,
-
weitere Fehlbildungen,
-
Weichteilverhältnisse,
-
-
die geistige Entwicklung,
-
körperliche Entwicklung (die Prothese/Orthese muss sich den Entwicklungsphasen anpassen: Säugling, Krabbelkind, Schulkind oder Jugendliche haben verschiedene Bedürfnisse [11]).
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Psychischer Zustand
„Der psychische Zustand ist wichtiger als der körperliche. Wir versorgen primär den Patienten, nicht den Stumpf“ resp. die Extremität [8].
Jeder Betroffene und dessen Eltern durchleben den Bewältigungsprozess der Erkrankung: Schuldgefühle, Schock, Verleugnung, Aggression, Depression, Verhandeln und Akzeptanz. Dies vollzieht sich in Abhängigkeit von der Ausprägung der Fehlbildung, dem Wesen, dem Alter und der Reife des Kindes sowie dem sozialen Umfeld [12].
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Umwelt
Die Umwelt besteht aus dem sozialen Umfeld, aber auch den kulturellen Traditionen. Bei kleinen Kindern ist v. a. der funktionelle Wert der Versorgung wichtig. Im Schulalter tritt der kosmetische Aspekt mehr in den Vordergrund. Es besteht der Wunsch nach Anpassung des eigenen Erscheinungsbildes an das von Gleichaltrigen.
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Ätiologie
Bei Kindern mit angeborenen Defekten sind klare Vorteile die voll erhaltene Sensibilität am Stumpfende sowie die meist bessere Weichteilpolsterung als bei posttraumatischen Stümpfen.
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Amputationshöhe/Höhe der Behinderung/Einschränkung
Patienten mit einer peripheren Dysmelie (z. B. der Finger oder Zehen) benötigen meist keine Prothese/Orthese, da sie nur eine sehr geringe Funktionsminderung erfahren. Je kürzer die Extremität, desto größer ist der Wunsch des Patienten nach einer guten Versorgung.
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Mehrfache Amputationen/Behinderung/
Einschränkung
Die Schwierigkeit ergibt sich aus der fehlenden Möglichkeit zur Kompensation. Die Anforderungen an die Versorgung sind sehr hoch.
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Zeitspanne zwischen Amputation und Prothesenversorgung
Eine späte Versorgung führt zumeist zu einer guten Adaptation und einer schlechten Hilfsmitteltoleranz.
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Orthopädietechnik
Wichtig ist die Qualifikation des Orthopädietechnikers bei einer hoch individuellen Versorgung. Vor allem das Wissen um die verschiedenen Materialien (z. B. Gießharz, Carbon, Copolymer, Prepreg, Alcantara) ist von entscheidender Bedeutung für Funktion, Belastbarkeit und Tragekomfort [13], [14].
Da gerade bei Kindern eine häufige Anpassung der Prothese an das Längenwachstum nötig ist und Reparaturen ebenfalls häufig vorgenommen werden müssen, ist eine unkomplizierte Erreichbarkeit des Orthopädietechnikers für die positive Entwicklung der Rehabilitation des Kindes mit der Prothese/Orthese notwendig [7], [8], [9], [10].
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Klinische Beispiele
Klinisches Beispiel 1
Es handelt sich um einen 12-jährigen Jungen mit einer kongenitalen Fehlbildung der unteren Extremitäten: eine Tibiaaplasie rechts und eine Tibiahypoplasie links. Hinzu kommt eine schwerstgradige Klumpfußfehlstellung beidseits, eine Hexadaktylie links sowie eine Knieinstabilität links. An der linken Hand lag am Daumen eine Tendovaginitis stenosans vor, weshalb im weiteren Befundverlauf eine Ringbandspaltung am linken Daumen durchgeführt wurde, um die Funktion der Hand zu verbessern. Wegen einer schwergradigen Außenrotationskontraktur des rechten Hüftgelenks wurden eine subtrochantäre Innenrotationsosteotomie und ein Rectustransfer durchgeführt. Des Weiteren erfolgte mit Beginn der Pubertät eine Epiphysiodese der rechten distalen Fibula, eine operative Korrektur des linksseitigen Klumpfußes sowie die Abtragung der 6. Zehe.
Der Junge ist ein aufgeschlossener 12-jähriger Knabe, der inzwischen ein Gymnasium besucht. Er möchte im Vergleich mit seinen Altersgenossen konkurrenzfähig sein. Auch im Freizeitbereich möchte er alle Möglichkeiten nutzen, um selbstständig mobil zu sein.
Bei den vorliegenden Befunden und zur größtmöglichen Selbstständigkeit stellten wir die Indikation zur Anfertigung einer rechten Oberschenkel-Orthoprothese, die in Analogie zu einer Borggreve-Prothese gefertigt wurde. Sie wurde mit einem Kunstfuß als Verkürzungsausgleich ausgestattet sowie mit einer Knieextensionshilfe.
Links wurde eine Oberschenkel-Orthoprothese nach Gipsabdruck gefertigt, die ebenfalls über einen Kunstfuß als Verkürzungsausgleich verfügt, sowie über eine integrierte Prepreg-Carbonfeder und ein unilaterales Kniegelenk.
Bei seiner letzten klinischen Untersuchung zeigte der Junge mit seiner orthoprothetischen Neuversorgung ein flüssiges, alternierendes und insgesamt dynamisches Gangbild, das hinsichtlich seiner Gehgeschwindigkeit deutlich variiert werden kann. Das Gangbild ist nahezu unauffällig, wenn sich dem Betrachter durch das Tragen von Kleidungsstücken der Blick auf die Orthoprothesen verschließt.
Neben der oben beschriebenen orthoprothetischen Versorgung steht dem Patienten auch eine wasserfeste Gehhilfe zur Verfügung. Der Junge ist mit seiner aktuellen orthoprothetischen Versorgung sogar in der Lage, ein Hoverboard zu nutzen ([Abb. 1 a]).
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Klinisches Beispiel 2
Der Junge ist 14 Jahre alt und wurde mit einem fehlgebildeten linken Fuß geboren. Dabei handelt es sich um einen 4-strahligen Fuß mit einer Beinverkürzung von ca. 6 cm. Die weitere Diagnostik ergab eine Fibulaaplasie links mit einer im weiteren Wachstum fortschreitenden kontrakten Pes-equinovarus-Fehlstellung. Im Röntgenbild besteht ein sogenannter Flat-Top-Talus links.
Der Junge war in der 35. SSW entbunden worden. Bei den Eltern bestand der Wunsch, möglichst auf operative Interventionen zu verzichten, in Abhängigkeit der Befundentwicklung.
Aufgrund einer rechtsbetonten bilateralen periventrikulären Leukomalazie, die erst im Alter von 3 Jahren diagnostiziert wurde, entwickelte der Junge eine spastische Hemiparese links, die nach dem Gross Motor Function Classification System (GMFCS) in den Level I einzustufen ist, was bedeutet, dass der Junge frei und unabhängig gehfähig ist.
Demzufolge wurde der Junge zunächst mit einer Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik nach Hafkemeyer versorgt, die über eine vollkontaktige Fußfassung und eine tibiale Kondylenumgreifung verfügt und dorsal mit einer Prepreg-Carbonfeder ausgestattet ist, die eine dynamische Fußabwicklung erlaubt ([Abb. 2]). Die varische Rückfußfehlstellung konnte vollständig korrigiert werden, indem die Ferse in Neutralstellung eingestellt wurde. Der Spitzfuß konnte nur über eine ausgeprägte Fersensprengung funktionell ausgeglichen werden [13], [14], [15].
Im Alter von 13 Jahren erfolgten dann eine operative Stellungskorrektur des linken Unterschenkels sowie eine Z-förmige Achillessehnenverlängerung. Dieses führte zu einer verbesserten orthopädietechnischen Versorgungsmöglichkeit und zu einem insgesamt zufriedenstellenden Korrektur- und Mobilisationsergebnis. Ein halbes Jahr später war eine temporäre Epiphysiodese der kniegelenknahen Wachstumsfugen rechts durchgeführt worden, um die Beinlängendifferenz weiter auszugleichen.
Versorgt wurde der Junge zuletzt wegen eines linksbetonten Innenrotationsgangbildes mit einer handwerklich gefertigten Derotationsbandage sowie mit einer dynamischen Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik für links, die über eine tibiale Kondylenfassung, eine vollkontaktige Fußbettung in maximaler Rückfußkorrektur und einer dorsalgeführten individuellen Carbonfeder verfügt. Rechtsseitig wurde eine Ausgleicheinlage gefertigt. Der Junge nutzt seine Orthese in Verbindung mit Orthesenschuhen sowie wahlweise auch mit Konfektionsschuhen.
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Klinisches Beispiel 3
Die inzwischen 19-jährige Patientin ist seit früher Kindheit in unserer Behandlung. Sie leidet an einer sogenannten VACTERL-Assoziation (s. a. [Infobox „Hintergrundwissen“]) mit zahlreichen Fehlbildungen innerer Organe:
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Analatresie,
-
Pylorusatresie,
-
Fehlbildungen des Urogenitaltraktes,
-
Nierenagenesie links,
-
Kuchenniere rechts.
V – vertebrale Anomalien
A – anale und aurikuläre Anomalien
C – Herzfehler (engl.: cardiac Defects)
T – tracheoösophageale Fistel
E – Ösophagusatresie
R – renale Fehlbildung
L – Fehlbildung der Gliedmaßen (engl.: Limb)
Neurologisch bestehen eine partielle Balkenagenesie sowie ein nicht shuntpflichtiger Hydrocephalus internus. Weitere Fehlbildungen im Bewegungsapparat waren eine Agenesie des Os sacrum, eine Segmentationsstörung der Thorakalwirbel Th5 und Th6 sowie der Lendenwirbel L2 bis L5. Die unteren Extremitäten zeigten beidseitig eine schwergradige Klumpfußfehlstellung, die operativ behandelt werden musste. Wegen einer Adduktorenkontraktur wurde eine offene Adduktorentenotomie durchgeführt. Des Weiteren bestehen ein ausgeprägter Innenrotationsdrehfehler des linken Unterschenkels, eine Außenrotationsfehlstellung des rechten Unterschenkels und ein Klumpfußrezidiv links ([Abb. 3]).
Die Patientin ist seit früher Kindheit bei uns in Behandlung. Der Wunsch nach Mobilität war äußerst groß, operative Maßnahmen im Bereich des Skelettsystems sollten auf Wunsch der Eltern und später auch des Kindes nicht durchgeführt werden. Dennoch wollte das Mädchen eine größtmögliche Mobilität erreichen, mit der Möglichkeit zumindest transferfähig zu sein und kurze Wegstrecken innerhalb der Wohnung selbstständig zurücklegen zu können.
Die orthopädietechnische Versorgung besteht aktuell in einer Unterschenkelorthoprothese für rechts und einer Oberschenkelorthoprothese für links.
Des Weiteren verfügt das Mädchen über einen Adaptivrollstuhl mit Aufnahmemöglichkeit für ein Handbike sowie über eine anatomisch angepasste Sitz-Rücken-Einheit nach Vakuumabdruck. Die Transfermöglichkeit unter Nutzung der orthoprothetischen Versorgung erfolgt in Verbindung mit Unterarmgehstützen.
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Klinisches Beispiel 4
Bei dem Jungen handelt es sich um ein bei der Erstvorstellung 2-jähriges Kind, das uns als Flüchtling aus Syrien vorgestellt wurde. Wegen der eingeschränkten medizinischen Möglichkeiten bei ungeklärtem Flüchtlingsstatus war eine rasche orthopädietechnische Versorgung notwendig, um die statomotorischen Möglichkeiten des Kindes zu fördern. Erstes Ziel war es, selbstständige Steh- und Gehfähigkeit zu ermöglichen, obwohl die Kniegelenkbeweglichkeit rechts lediglich einen Beuge-/Streckumfang von 100 – 90 – 0° aufwies. Wegen einer kongenitalen Fehlbildung des rechten Unterschenkels befand sich der Fuß in einer extremen Spitzfüßigkeit, sodass nur umfangreiche und mehrfache operative Behandlungsschritte eine langfristige Korrektur und Belastungsfähigkeit des rechten Beines möglich machen würden ([Abb. 4]).
Aufgrund der eingeschränkten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zum Zeitpunkt des eingeleiteten Asylverfahrens wurde die Indikation zur Anfertigung eines sogenannten Knieruhebeins gestellt, das durch die differenzierten OP-Möglichkeiten und durch die Entwicklungen der orthopädietechnischen Produkte inzwischen nicht mehr zur „Standardversorgung“ zählt.
Mit der prothetischen Versorgung war der Junge spontan steh- und gehfähig, wobei er durch ein diskretes Streckdefizit des rechten Hüftgelenks ein noch leicht auffälliges, jedoch alternierendes und dynamisches Gangbild zeigt.
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Klinisches Beispiel 5
Der Junge kam mit einer angeborenen Fehlbildung der rechtsseitigen Tibia auf die Welt. Es handelt sich dabei um einen longitudinalen Reduktionsdefekt rechts mit einem dreistrahligen Fuß im Sinne einer Gabelbildung im Sprunggelenkbereich und Transformation der distalen Fibula bei Lastübernahme. Klassifiziert nach Jones ist es der Typ 4, nach Weber Typ 2 und nach Kalamchi und Dawe Typ 3. Es besteht klinisch eine ausgeprägte Beinverkürzung, die im Rahmen des Wachstums sukzessive zugenommen hat.
Die Diagnose der kongenitalen Fehlbildung war sonografisch während der Schwangerschaft gestellt worden. Damals bestand der Verdacht eines Klumpfußes. Klinisch zeigte sich unmittelbar nach der Geburt eine Dysplasie des rechten Fußes. Klinisch vermutete man eine unauffällig ausgestaltete Fibula und Tibia, was sich in der Röntgenkontrolle später jedoch nicht bestätigte.
Um die klinische Klumpfußfehlstellung zu korrigieren, wurde eine Oberschenkellagerungsorthese für rechts gefertigt, die über eine ca. 30°ige Knieflexion und über eine supinierende Fußeinstellung in 20° Plantarflexion verfügte. Damals war die Beinverkürzung rechts unmittelbar postpartal nur sehr diskret. Mithilfe der Oberschenkelorthese konnte eine wachstumslenkende Korrektur während der Nacht sichergestellt werden.
Die Vertikalisierung des Kindes erfolgte erstmalig im April 2016 nach Anfertigung einer Unterschenkelorthese mit Spitzfußausgleich für rechts. Hier konnte durch die Einstellung des Fußes die Beinlängendifferenz ausgeglichen werden. Im August 2016 wurde die Indikation gestellt für eine knöchelübergreifende, halbwadenhohe Sprunggelenkorthese in 10° Abduktion und 25° Plantarflexion rechts bei vollkontaktiger Fußfassung. Ein Verkürzungsausgleich von 25 mm rechts war integriert worden. Mit dieser Orthese zeigte der Junge ein breitbasiges, selbstständiges und dynamisches Gangbild.
Im April 2017 wurde eine dynamische Unterschenkelorthese in Prepreg-Technik nach Gipsabdruck für rechts mit tibialer Kondyleneinbettung, vollkontaktiger Fußfassung in Spitzfußstellung und maximaler Rückfußkorrektur (Neutralstellung) verordnet – ein integrierter Verkürzungsausgleich. Zu diesem Zeitpunkt war die Beinlängendifferenz weiterhin 2,5 cm. Zu der Orthese wurden Orthesenschuhe genutzt. Wachstumsbedingt musste im November 2017 eine neue dynamische Unterschenkelorthese angefertigt werden, mit der der Junge ein Laufrad bedient ([Abb. 5]).
Unter Steh- und Gehbedingungen hatte der Junge eine deutliche Wachstumsentwicklung gezeigt, sodass bereits im Januar 2018 eine knieübergreifende Ortho-Prothese für rechts angefertigt werden musste, die über ein frei bewegliches Kniegelenk verfügt mit kurzer knieübergreifender Oberschenkelhülse und Einbettung des dreistrahligen Fußes in Verlängerung der Unterschenkelachse. Hierdurch war ein funktioneller Beinlängenausgleich vollständig möglich. Neben der orthopädietechnischen Versorgung wurde der Junge physiotherapeutisch behandelt, einschließlich einer Galileo-Vibrationstherapie, um tonusverbessernd einzuwirken. Inzwischen trägt der Junge einen Kunstfuß als Verkürzungsausgleich, da die Beinlängendifferenz weiter zugenommen hat. Im Oktober 2017 war zuungunsten der rechten Seite eine echte knöcherne Beinlängendifferenz von 8 cm festzustellen. Prognostisch besteht bei dem Jungen eine prospektive Differenz bei Wachstumsende von ca. 18 cm. Langfristig sollte hier eine operative Verlängerung durchgeführt werden.
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„Standardversorgungen“ mit konfektionierten Hilfsmitteln sind bei kongenitalen Fehlbildungen in der Regel nicht zielführend.
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Bei Kleinkindern mit angeborenen Fehlbildungen der Gliedmaßen sind regelmäßige Hilfsmittelkontrollen hinsichtlich der Passgenauigkeit und Funktion obligat erforderlich.
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In jungem Alter sind häufig Neuversorgungen wachstums- und befundbedingt notwendig (Kostenübernahme).
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Die Materialauswahl richtet sich nach Belastung, Funktion, Hautverhältnissen.
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Schuhwerk hat großen Einfluss auf die Funktion der prothetischen Versorgung.
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Zu Beginn der orthoprothetischen Behandlung sind „Überversorgungen“ tolerabel.
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Bei jeder Neuversorgung ist die Indikation der Hilfsmittelversorgung kritisch zu prüfen.
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Hilfsmittel sollen helfen.
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Die therapeutischen Ziele müssen realistisch und für den Patienten alltagsrelevant sein.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Ulrich Hafkemeyer, Coesfeld.
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Ulrich Hafkemeyer
Dr. med. Physiotherapieausbildung 1980 – 1983, Bobath-Ausbildung 1985, Medizinstudium 1986 – 1992 WWU Münster. Leitender Oberarzt am Lehrstuhl für Technische Orthopädie WWU Münster bis 12/2005. 2006 – 2008 Chefarzt der Abteilung für Technische Orthopädie und pädiatrische Neuroorthopädie am Sozialpädiatrischen Ambulanz- und Therapiezentrum (SPATZ) am Ludmillenstift Meppen, seit 2008 in gleicher Position im SPZ Westmünsterland in Coesfeld.
Melanie Horter
Dr. med. 1997 – 2003 Medizinstudium WWU in Münster. 2010 Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie, 2013 Kinderorthopädin. 2010 – 2012 Oberärztin in der Klinik für Technische Orthopädie und Rehabilitation und 2012 – 2016 in der Klinik für Kinderorthopädie und Deformitätenrekonstruktion am UKM. Seit 2016 Oberärztin in der Klinik für Kinder- und Neuroorthopädie am Clemenshospital in Münster und am SPZ Westmünsterland in Coesfeld.
Carsten Kramer
1981 – 1985 Ausbildung im Orthopädie- & Bandagistenhandwerk. 1985 – 1989 angestellter Orthopädietechniker. 1989 – 1990 Meisterschule (Bundesfachschule für Orthopädietechnik Dortmund), Abschluss zum Orthopädietechnikermeister & Diplom-Orthetiker/Prothetiker. 1992 Gründung des orthopädietechnischen Unternehmens Kramer, Spezialisierung in den Bereichen individuelle Orthopädie- und Rehatechnik.
Interessenkonflikt
Erklärung zu finanziellen Interessen
Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an im Bereich der Medizin aktiven Firma: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an zu Sponsoren dieser Fortbildung bzw. durch die Fortbildung in ihren Geschäftsinteressen berührten Firma: nein.
Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Niethard FU, Pfeil J, Bieberthaler P. Duale Reihe Orthopädie und Unfallchirurgie. Stuttgart: Thieme; 2009
- 2 Hafkemeyer U, Verhoeven G, Koller A. et al. Das Holt-Oram-Syndrom. Drei Fallbeispiele und deren krankengymnastische, ergotherapeutische und orthopädie-technische Behandlung. Orthopäde 2001; 30: 226-230
- 3 Martin I. Dysmelie. Angeborene Gliedmaßenfehlbildung/-en. Ein Hand- und Fußbuch. Maintal: Homo-Mancus; 2015
- 4 Sinclair MF. Kongenitale Fehlbildungen der unteren Extremität. Pädiatrie Hautnah 2002; 5: 218-221
- 5 Roche Lexikon Medizin. 4. Aufl.. München: Urban & Fischer; 1999
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- 7 Baumgartner R. Amputation und Prothesenversorgung beim Kind. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag; 1977: 185
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- 13 Hafkemeyer U, Gäher C, Kramer C. Dynamische versus starre Unterschenkelorthesen bei Hemiplegie und Diparese. MOT 2010; 130: 57-62
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Korrespondenzadresse
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